Bei allem, was es an Gemeinschaft zu leben errichtet und einrichtet, hat das Recht dennoch einen lebensfeindlichen Zug. Indem es antizipiert, was schiefgehen könnte, hindert es das, was Handeln menschlich macht: Spontaneität und Phantasie, Unbedarftheit oder Unmittelbarkeit, das Wilde wie das Vieldeutige. Jede List, die das Gesetz schlau unterläuft und in die Defensive zwingt, erscheint zugleich als leiser Triumph zugunsten regelsprengender Vitalität. Recht, noch bevor aus ihm ein endgültiges Urteil gezogen wird, hat selber zuweilen den gestrengen Charakter eines Gefängnisses.
Monat: April 2022
Bin ich das wirklich?
In allen Erwägungen, die Lebensentscheidungen begründen, findet sich jenseits der Fragen: Will ich das? Kann ich das? Soll ich das? die eine wesentliche: Bin ich das wirklich?
Selbstvergewisserung
Das ist wohl die Hauptaufgabe der Erinnerung: dass mit der bruchlosen Geschichte eines Lebens, das Gefahren schadlos bestanden hat und in dem sich Hoffnungen überraschend erfüllten, sich die Gegenwart ihrer selbst vergewissert als die Zeit, die noch viel vor sich hat. Das Gedächtnis macht die Perspektiven eines Daseins belastbar. Es ist eine der wichtigsten Funktionen der Zukunft, nicht nur das Medium, über das die Vergangenheit sich äußert.
Anklage und Verteidigung
Die Rhetorik des Vorwurfs unterscheidet sich grundsätzlich von der einer Verteidigung. Und lässt sich am einfachsten so beschreiben: Wer anschuldigt, erhöht den Druck auf sein Gegenüber im Maße, wie er viel vorbringt, wohingegen bei einer Rechtfertigung es oft schon als Indiz eines schlechten Gewissens genommen wird, wenn einer lang und ausführlich spricht. Die Regel lautet: Rede ohne Punkt und Komma bei der Anklage; sei knapp und präzise in der Defensive.
Markenbildung
Es kommt nicht selten vor, dass die Frage, wer einer ist und was er sein will, ihm überhaupt erst Klarheit verschafft, wer er ist und was er sein will. Gibt es eine Identität ohne das Bewusstsein von ihr? Oder gar: Gibt es nur Identität, wo die Reflexion über sie noch nicht provoziert wurde, in der Selbstverständlichkeit des Daseins und Soseins?
Zu sich finden
Erfahrung lehrt, dass viele, die „etwas werden wollen“ im Bemühen, das zu sein, sich selbst verlieren. Die große Kunst, eine eigene Identität zu entwickeln, besteht darin, von sich gerade so weit absehen zu können, dass man bei sich bleibt, sich in den Aufgaben der Welt vorbehaltlos zu engagieren, in der Gewissheit, sich gerade so zu entdecken. Es war Hegel, der dieser Lebensanstrengung die logische Struktur gegeben hat: „Die Identität, statt an ihr die Wahrheit und absolute Wahrheit zu sein, ist daher vielmehr das Gegenteil; statt das unbewegte Einfache zu sein, ist sie das Hinausgehen über sich in die Auflösung ihrer selbst.“ (Wissenschaft der Logik 1, Kap. Identität, Anm. 2)
Erfreulicher Blauton
Die deprimierenden Bilder aus den Stätten ungebremster Zerstörungswut, die verwaiste und verbrannte, graue Ruinen zeigen, Orte, in denen Menschen vor nicht allzu langer Zeit fröhlich Feste begangen haben, an lauten Marktständen Waren gehandelt wurden, lassen mit der Sehnsucht nach Weisen unbeschwerter Lebendigkeit gerade in ihrer Negation genau aufscheinen, was es ist, das Freiheit anschaulich symbolisiert: das Zusammenspiel von Farben und Formen.
Was das Spiel entscheidet
Den Kampf zwischen Zufall und Notwendigkeit, dem Unvorhersehbaren und der Berechenbarkeit sieht man nirgends anschaulicher als im Fußball. Die Kugelform, mit der sich der Part menschlicher Extremitäten auseinandersetzen muss, der am wenigstens geeignet zu scheint für die Präzisionsbehandlung des Spielgeräts, sorgt dafür, dass letztlich den Ausgang der Auseinandersetzung zweier Mannschaften niemand vorauszusagen vermag. Auch wenn die Wahrscheinlichkeit, wer gewinnen wird, beschränkt zu kalkulieren ist, konzentriert sich der Wettkampf darauf, diesem Kontingenzförderer Ball nicht ausgeliefert zu sein und selber zum „Spielball“ seiner Schicksalhaftigkeit zu werden. Erfolgreich zu sein bedeutet, dass das Ich (der Spieler) das Launische des Es (die unberechenbare Kugel) so bezwingt, dass ein Wir (das Team) zum Zug und zu Spielzügen kommt, die einem zielsicheren Plan entsprechen. Zum ästhetischen Ideal arbeitet sich diese anstrengende Kunst heraus, wenn am Ende der Ball wie selbstverständlich durch die Reihen rollt. Denn wie lautet Dr. Kossuths Regel Nr. 1 im Roman des englischen Schriftstellers Joseph Lloyd Carr: „Man kann den Ball ohne Weiteres spielen, ohne auf seine Füße zu schauen. Frauen müssen beim Stricken auch nicht auf ihre Hände gucken.“*
* Wie die Steeple Sinderby Wanderers den Pokal holten, 41
Hoffentlich
Hoffnung ist so lange keine leere Worthülse, wie mit der Erwartung des Besseren der Wille zur Veränderung einhergeht.
Handlungszwang
Das erste pragmatische Axiom in einer Krisensituation lautet: Man kann nicht nicht handeln.
In der Krise
Krisen zeichnen sich dadurch aus, dass auch eine unscheinbare Entscheidung gravierende Folgen zeitigt, die Möglichkeit aber zu zögern ausgeschlossen ist, da die Konsequenzen oft noch einschneidender sind. Anders: Es ist schwer, in solchen Phasen der Gefährdung Entschlüsse zu fassen, die am Ende eher größere Spielräume öffnen, als das Optionenfeld zu verengen. Und doch ist es unbedingt nötigt, die Handlungsauswahl gerade an der Vielzahl der erlaubten Anschlussaktionen zu messen.
Splendid Isolation
Für jemanden, der immer nur an sich gedacht und „sein Ding“ gemacht hat, ist die Bestrafung durch Isolation nur die verkehrte Bestätigung, richtig gehandelt zu haben. Es gibt eine Form der Anerkennung, die genau darin besteht, dass man sie verweigert.
Glaubwürdig
In den Ostergeschichten wird der Glaube der Enttäuschten entzündet durch Gesten der Vertrautheit, nicht durch ein glorifiziertes Wunder, das Staunen und Anbetung erregt: durch die allbekannte Stimme, die Maria ihren Namen sprechen hört, durchs Brotbrechen bei der Tischgemeinschaft in Emmaus, durch die erhellende Auslegung von oft vernommenen, traditionellen Texten, die sich als Weissagung auftun, durch sinnfällige Berührung der geschlagenen Wunden, beim geglückten Fischfang. Alles neu machen bedeutet im Testament: dasselbe noch einmal ganz anders sehen und leben zu können. Das könnte als Bedingung gelten für die Lebendigkeit des Lebens.
Sich der Freude nicht schämen
In Zeiten und an Orten, in denen Schrecken, Elend und Leid so erdrückend vorherrschen, dass Schönes zu sehen und zu sagen, leicht taktlos wirkt oder peinlich berührt, kann Freude, die das Leben feiert, nicht laut sein. Aber sie vermag in ihrer absichtslosen Diskretion, wenn sie nicht vergisst, dass sie aus der Überwindung und Befreiung ihre Kraft zieht, zu trösten. Vielleicht ist das der Sinn von Freude, wörtlich: der Frohsinn, überhaupt: Halt zu schenken und Stärke zu verleihen, eine, die unterschiedslos allen gewährt wird. So sagt es der, von dem das Testament berichtet, dass er die Macht hat zu versöhnen: „Ich lebe und Ihr sollt auch leben.“ (Joh. 14, 19)
Drohung oder Versprechen
Zu jeder wirkungsvollen Drohung gehört das Doppelspiel mit Ungewissheit und Sicherheit: Was geschehen wird, soll weitgehend offenbleiben – „unvorhersehbare Konsequenzen“ –, solange nur eindeutig bestimmt ist, wann es zu geschehen hat. Das Gegenläufige funktioniert aber auch: dass die Kampfansage die Folgen präzise beschreibt, ohne genau zu sagen, zu welchem Zeitpunkt sie eintreten werden. Der Reiz auszutesten, wo die Grenze zum Eingriff liegt, wächst in dem Maße, wie beides klar benannt oder beides im Ungefähren gehalten wird, hier die Probe auf die Stringenz zwischen Wort und Tat, dort die Provokation der noch verborgenen Entschlossenheit. Wichtig ist nur die Abhängigkeit vom eigenen Verhalten, das letztlich entscheidet, ob die Andeutung übersetzt wird in die Aktion. Beim Versprechen ist es umgekehrt: Es operiert zweifach mit Gewissheit und signalisiert Festigkeit vor allem im Inhalt wie in der Zuverlässigkeit der eigenen Absichten. Nur dass unsicher bleiben muss, ob der Gang der Dinge das wirklich zulassen wird. Drohung und Versprechen fordern beide den Glauben heraus, der sich als Furcht artikulieren wie als Vorfreude zeigen kann.
Selbstaufgabe
Kapitulation steht in keinem guten Ruf, wenn es darum geht, eine erbittert geführte Auseinandersetzung zu beschwichtigen. Sie steht im Verdacht, vor dem gewaltigen Anspruch der Selbstbehauptung feige eingeknickt zu sein. Der Doppelsinn von Aufgabe, lösen zu müssen, was ansteht (mir ist aufgegeben), und daran zu scheitern (ich gebe auf), spiegelt aber wider, dass es sich nicht nur um den Verzicht handelt, das Eigene ins Zentrum des Tuns rücken zu müssen. Aufgeben bedeutet, die Würde des selbstbestimmt Agierenden gerade in dem Augenblick sichtbar werden zu lassen, in dem sie am meisten bedroht ist. Es ist der Übergang ins Leiden, der Wechsel ins pure Passiv, der ansteht, und der nun vermieden wird, indem ein Mensch es vorzieht, das Ende zu setzen, bevor es ihm gesetzt wird. Für einen Moment blendet er aus, dass nichts dabei seiner Intention entspricht, dass hier kein Raum mehr für die eigenen Wünsche vorhanden ist. Fast möchte man sagen, er handelte, als ob… Denn wer aufgibt, spürt die Unausweichlichkeit eines Zwangs. Und doch erinnert er sich ausgerechnet jetzt seiner Freiheit, die er noch einmal der Notwendigkeit dessen, was ohnehin geschehen wird, erschöpft triumphierend entgegen hält. Auch das Wort „Passion“, der an diesem Karfreitag gedacht wird, übernimmt diese zweifache Bedeutung, Leiden und Leidenschaft zu sein, passiv und aktiv zugleich. Seltsam, dass die deutsche Sprache diesen kleinen Stolz abbildet, indem sie eine Verwandtschaft zwischen der Resignation und der Initiation entdeckt. „Aufgabe“ meint beides: Ende und Anfang, ablassen und anpacken. Dass Gott, über den hinaus Größeres nicht gedacht werden kann*, sich selbst aufgibt (über das hinaus Geringeres nicht geschehen kann), um so zu retten, was zu retten ist, mag die Ungeheuerlichkeit dessen anzeigen, was im Tod Jesu auf dem Spiel steht. Dem Bösen wird die Macht genommen, mit dem Letzten drohen zu können: der Vernichtung – auch wenn es immer noch die Macht hat, es auszurichten. Auferstehung ist der Gewinn einer Freiheit, die nicht mehr gezwungen ist, Angst haben zu müssen.
* Siehe Anselm von Canterbury, Proslogion, II
Mit-Teilung
Es ist eines der weltumspannenden, einsichtsfordernden Gesetze, das die Geschichte vom letzten Abendmahl durchzieht: dass ein Miteinander vor allem von Hingabe und Teilen gehalten wird. Die Passionsgeschichten, die mit dem Abschiedsessen in ihre ernste Phase treten, sind tiefe Lehrstücke über die ungemessene Größe und den leidvollen Variantenreichtum einer Liebe, der Gottes zum Menschen.
Stattdessen
Etwas für etwas anderes zu nehmen, ist die Fähigkeit von Vernunftwesen, die nicht nur gelernt haben, Ersatzwirkungen zu erzeugen oder zu akzeptieren, sondern im Stattdessen den höchsten Ausdruck ihres Freiheitsniveaus zu identifizieren. Der Mensch ist das symbolische Tier. Er vermag Zeichen zu setzen und zu deuten, mit Fingerzeigen Handlungen zu ersetzen oder anzudeuten. Das Geschenk nimmt er als Form der Zuneigung, den Gruß als Signal eines Interesses, der Sieg im Spiel gleicht dem Akt der Übermächtigung. Solche Gesten sind umso wichtiger, je unmittelbarer und eindeutiger eine Zeit nach Einschnitten und Einschreiten ruft. Politik ist ein Symbolsystem, auch wenn sie sich nicht erschöpfen kann in Ersatzhandlungen. Ihr Medium ist die Rede und das Gespräch. Das zu verweigern, macht eine Sache, ein Verhältnis zwar nicht eindeutiger, aber gefährlicher. Wer auf Sinnbilder verzichtet, verbaut Auswege.
Zerstörungswut
Es ist Zeit, ein Wort aus dem mythischen Vokabelschatz hervorzuholen, das – zwar nicht in Vergessenheit gerät, aber – unter den Verdrängungsobjekten vorn steht: das Böse. Böse ist eine Sache immer dann, wenn die Zerstörung kein Ziel kennt als sich selbst.* Wenn alle Zwecke schale Erfindungen sind, die maskieren sollen, was einzig zur Befriedigung des Drangs, grausam zu sein, treibt: die unmittelbare Lust an der Vernichtung. Nie ist Menschsein stärker in Frage gestellt, politisch wie moralisch, strukturell wie strategisch, als in solchen Momenten. Es sind die Augenblicke, in denen die Geschichte ein Urteil spricht.
* Siehe die acht Diskurse über das Böse des polnischen Philosophen Leszek Kolakowski: Gespräche mit dem Teufel, 74f.
Du kannst mir ruhig näher kommen
Vieles lässt sich in einer Beziehung klären, wenn zwei Fragen – eine nach dem Raum, die andere nach der Zeit – ehrlich beantwortet werden: Wie nah? Und das wie lang?
Recht menschlich
Man kann von Menschlichkeit sinnvoll nur reden, wenn man von ihrem Talent zur Unmenschlichkeit sprechen gelernt hat. Das Recht ist eine geniale Erfindung, die das Misstrauen in die naive Humanität und die unmittelbare Enttäuschung über Nebenmenschen nicht zum Anlass genommen hat, aufeinander loszugehen, sondern die Bedingungen formuliert, unter denen es gelingen kann, miteinander auszukommen.
Chirurgisch
Die zynisch geschönte Vorstellung, die sich in der Wendung „chirurgische Kriegsführung“ ein Bild bastelt von einer militärischen Auseinandersetzung ohne Schäden in der Zivilbevölkerung, bereitet dennoch vor, was künftig denkbar ist: Gewalt, die nicht sichtbar ist, Zerstörung, die symbolisch wirkt, Überwindung durch Drohung, Waffen, deren Überlegenheit darin besteht, dass der Gegner sie nicht versteht, der Verzicht auf Frontlinien, die Vernichtung des Aggressors, nur indem seine zentralen Figuren ausgeschaltet werden. Der herrschende Krieg erscheint wie ein letztes nihilistisches Aufbäumen des Zeitalters der Explosion, in dem Autos mit Verbrennungsmotoren gebaut und die Wahnsinnswirkung von Wasserstoffbomben getestet wurden. Vom medialen Talent des Verteidigers abgesehen ist dieser Flächenkonflikt mit seinen Gräueln so entsetzlich wie aus der Zeit gefallen. Die vielbeschworene Zeitenwende stellt er selber nicht dar; er mag sie ankündigen. Künftige Kriege machen nicht mehr dem Erdboden gleich, was eine digitale Industrie im stellvertretenden Sprachbild fast sentimental „bricks & mortar“ nennt. Sie schalten aus und schalten ab.
Nach dem Ende einer Beziehung
Fundstück unter den Schreibfehlern. Da hat die Sprache einem intimen Gefühlsmix aus Enttäuschung und Verletzung, Zuneigung und Abschied einen zarten Ausdruck geschenkt: Vertrauern.
Trotz und Trost
Es wäre nicht Hoffnung, wenn sich eine Erwartung nicht darauf richtete, dass sich die obwaltenden Zustände verbessern. Hoffnung ist jene Form der Zuversicht, die sich kaum zufriedengibt mit einer Zusage, sondern voller Ungeduld ins Handeln, in die Veränderung drängt, wohl wissend, dass Tat, Verantwortung, die Auflehnung gegen Fakten noch leicht angekränkelt sind von der lähmenden Ohnmacht, aus der sie erwachsen. Hoffnung ist der tröstliche Trotz der Optimisten.