Monat: Mai 2022

Die Herrschaft des Dienstes

Zu den großen Leistungen entwickelter Gesellschaften gehört, dass sie Macht an Funktionalitäten koppelt. Der öffentliche Dienst, seine Ämter und Institutionen, heißt so, weil er durch seine Aufgabe, das geregelte Leben aufrechtzuerhalten, mit zweckgebundenen Zugriffs- und Durchsetzungskräften ausgestattet ist. Was aber, wenn er diesem Ordnungs- und Gestaltungsauftrag nicht mehr nachkommt? Dann bleibt nur die nackte Herrschaft, die willkürliche Überlegenheit, der Ton hohler Herablassung, die im Maße des Ausfalls administrativer Funktionen auf einen wachsenden Egoismus des Bürgers treffen, der zwischen Wurschtigkeit und Widerstandsphantasien hin- und hergerissen sich vom Staat unwillkürlich entfremdet.

Undiplomatisch

So wenig auf die Diplomatie als politischer Handlungsform verzichtet werden kann, so sehr entzieht sie sich dem Aufklärungsprinzip und der öffentlichen Kontrolle in der Demokratie. Sie ist der Ort, an dem Politik ihre wichtigsten Erfolge erzielen, wie sie auch der Pflicht zur Rechtfertigung durch den Hinweis auf Geheimverhandlungen ausweichen kann. Konsequente Transparenz zwingt dazu, undiplomatisch zu werden; konsequente Diplomatie nötigt zur Intransparenz.

Morgengebet des Managers

Aus dem Morgengebet des Managers: … und versuche uns nicht in der Führung.

Die lieben Kollegen

Unter Spezialisten steht der im Verdacht, unseriös zu sein, der noch anderes kann, als es die Fachwelt fordert.

Lüge nicht!

Der Freiheit, alles fragen zu dürfen, sollte die Freiheit unmittelbar entsprechen, nichts beantworten zu müssen. Nur so lässt sich vermeiden, dass einer sich gezwungen sieht zu lügen.

Von dort

Das Nicäno-Konstantinopolitanum und das apostolische Credo, beide Glaubensbekenntnisse binden die Himmelfahrt des Weltenerlösers unmittelbar an die Legitimation des Richtspruchs über die Menschen. „Von dort“ her, so heißt es, kommt Jesus nicht nur, um das Zeitenende zu besiegeln, von dort her sind seine Worte auch als letzte zu begreifen als Verfahrensentscheid über Lebende und Tote gleichermaßen, wodurch, als nicht unwesentliche Pointe, dem Tod die Macht endgültiger Differenzierung genommen wird. Was in juristischen Verfahren ohne Ansehen der Person geschieht, so dass die Iustitia mit verbundenen Augen dargestellt wird, und was so die allgemeine Gültigkeit des Beschlusses garantieren soll, das wird im Jüngsten Gericht durch die vorangegangene Himmelfahrt, die durch ein „Von dort“ jedes Wort letztgültig rechtfertigt, über die absolute Distanzierung gewährleistet. „Himmel“ ist das, was wir nicht sind und was wir auf Erden einander nie sein können. Dieser unendliche Abstand aber macht erst möglich, dass am dies irae, im definitiven Augenblick, nichts als die Person angesehen wird, was überhaupt erst Gerechtigkeit (und nicht nur Recht) zu sprechen erlaubt. Objektivität als Erkenntnisideal und Subjektivität als dauernder Störfaktor spielen keine Rolle mehr, weil das Urteil nicht „hier“ oder „dort“ gesprochen wird, auch wenn der Urteilende „von dort“ wiederkommt, indem er, der sich als das Wort vorgestellt hatte, das im Anfang war, sich selbst im finalen Akt überbietet als die eine Geste, die am Ende ist und die alle erhoffen: die weit ausgebreiteter Arme, in die sich zuverlässig flüchten kann, wer vom Urteilen und Verurteilen ein für allemal genug hat.

Doch, doch

Unter den Allerweltssätzen, die über das Miteinander von Menschen formuliert sind, gehört an die erste Stelle das Axiom: Man kann nicht nicht kommunizieren!* Keine Rede vom Reden, in der es nicht zitiert, gelegentlich gar besprochen wird. Es ist unangreifbar, weil auch der Widerspruch, die bockige Verweigerung, das trotzige Schweigen etwas sagen will. Und doch erregt diese Maxime Abwehr. Gäbe es nicht Formen, die sich dem entziehen, Varianten des Desinteresses, Arten des Gleichmuts? Auch dieser Satz über die Kommunikation kommuniziert. Er fordert auf, in jeder Geste, jedem Ausspruch, jedem Lächeln, jedem Zwinkern eine Botschaft zu suchen. Aber diesem Zwang zur Deutung kann ich mich verweigern. Und schlage so aus, wonach jede Kommunikation strebt: den Anschluss.

* Paul Watzlawick, Janet H. Beavin, Don D. Jackson. Menschliche Kommunikation, 53

Amtskette

Wer nichts Höheres kennt als das Amt, an das er sich kettet, ist des Amtes nicht würdig.

Zahlenwelt

Das gilt für die meisten ökonomischen Befunde: dass die Zahlen der Wirtschaft zwar exakt sind, aber die Konsequenzen und Entscheidungen, die daraus zu ziehen sind, sich aus ihnen nicht genauso zwangsläufig ergeben. Der Manager muss kein Rechenkünstler sein, aber über jenen Erfahrungsschatz verfügen, der ihm zuverlässig erlaubt, Daten sinnvoll zu deuten. Ob solche Interpretationen taugen, zeigt sich nicht zuletzt an der Belastbarkeit betrieblicher Kommunikation. Es gibt kein besseres Kriterium für die Qualität einer Leitungskraft, als dass Menschen ihr freiwillig folgen und die eigenen beruflichen Ziele an dem festzumachen bereit sind, was als strategische Notwendigkeit ausgegeben wurde.

Durch die rosa Brille betrachtet

Nichts trübt den Realitätssinn so ein wie der Erfolg, für den man sich nicht anstrengen musste.

Die Inflation der Gründe

Gestrandet am Bahnhof. Nichts geht mehr, außer die Dauerbeschallung durch den Lautsprecher am Gleis. Die funktioniert reibungslos. Ohne Unterbrechung wird zu jedem der ungezählten Zugausfälle der „Grund dafür“ genannt: Unbefugte am Gleis, Warten auf Anschlussreisende, Weichen- oder Stellwerksstörung, Reparaturen auf der Strecke und, nicht zuletzt, die berüchtigten Verzögerungen im Betriebsablauf. Aber wer will das wissen? Keinen der Reisenden interessiert, warum der Verkehr stockt. Hingegen interessiert ausnahmslos alle, wann sie endlich wegkommen und zum Ziel gelangen. Es wird Zeit, dass sich die Bahn von ihrer Vergangenheitsorientierung abwendet und der Zukunft widmet. In der Logik sind Gründe entscheidend, in der Psychologik dienen sie meist nur als Entschuldigung.

Wertschätzung

In jeder Beziehung regiert ein von allen gleichermaßen gehegter, aber nicht von allen gleich laut ausgesprochener Wunsch. Er heißt: Ich möchte gesehen werden.

Mathematik der Größe

Auch die Größe als Qualität lässt sich verstehen aus einer Addition einzelner, ja was: Mengen nicht, aber Einstellungen. Wobei die sozialen Bindungskräfte, die für sie wesentlich sind, sich über den Glauben an die eigene Stärke entwickeln hin zu einem Vertrauen, dessen Ausdrucksspektrum reicht von der Verlässlichkeit bis zum absoluten Einstehen füreinander, als eine Dimension eigenen Rechts den individuellen Fähigkeiten hinzugezählt werden müssen. Teamgeist, dieses unfassliche Phänomen, ist deutlich mehr als die Summe schönster Absichten und bester Talente. Er übernimmt die „Führung“ in einem gemeinschaftlichen Leben, das ausgezeichnet ist durch die Erfahrung, dass jeder, der in ihr lebt, sie auch als Ganzes erlebt. Dieses „Ganze“, das sich nicht über seine Zusammensetzung erschließt, ist das Geheimnis für Erfolg. Das ahnt, wer Großes anstrebt, und weiß, wer einmal Champion* geworden ist.

… wie Eintracht Frankfurt kurz vor Mitternacht am 18. Mai 2022 im Finale der Europa League

Richtig menschlich

Nur eine Moral, die auf den Anspruch verzichtet, das Richtige zu tun, und stattdessen versucht, menschlich zu sein, schützt vor der Verrohung der Seelen.

Motivationsseminar

Was bedeutet motivieren? Doch gewiss nicht: Menschen dazu zu bringen, dass sie sich bewegen. Sondern eher: sie so zu begeistern, dass sie klug werden. Wenn du kein Ziel hast, in der Sache keinen Sinn entdeckst, hilft es wenig, auf dem Weg zu sein.

Der Widerhall des hohen Tons

„Das Mysterium der Musik ist nicht das Unsagbare, sondern das Unaussprechliche.“* So beschreibt der französische Philosoph Vladimir Jankélévitch das Verhältnis von Sprache und melodischem Klang, der dem, was sich in Worte nicht fassen lässt, anders formatiert Ausdruck verschafft. Wie das Unsagbare einem Mangel an Wörtern entstammt, heißt unaussprechlich doch, wofür ein Zuviel an Worten nötig wäre. Hier regiert dröhnende Stummheit; dort herrscht Schweigen – und Hören.

* Die Musik und das Unaussprechliche, 106

Zu viel, um es zu erzählen

So manche Philosophie ist eine verkümmerte Erzählung, die zu lang geraten ist für einen Essay.

Die zivilisierte Welt

Vielleicht die klarste Definition von Zivilisation: Anerkennung von Macht, die sich zuvor nicht als Gewalt hat beweisen müssen.

Glück des Alters

Auch das Glück des Alters stellt vor eine Wahl: Selber gesund zu sein, so dass man den kranken Freunden links und rechts mit Tat und Kraft zur Seite stehen kann; oder selber krank zu sein und sich daran zu erfreuen, dass links und rechts Freunde stehen, die einem zur gefälligen Stärkung nicht von der Seite weichen. Was schöner ist? Von Maladen nichts hören und die Malaisen nicht spüren zu müssen.

Rücksicht

Das Wort „Rücksicht“ täuscht, weil es als Haltung genommen wird, in der das Auge sich aufmerksam engagiert. Stattdessen sollte diese Geste akustisch genommen werden. Sie ist die Anerkennung des stillschweigenden Anspruchs, den inneren Fluchtort von Menschen unangetastet zu lassen, der durch Lärm, Geschwätz oder Wichtigtuerei als letztes Seelenasyl bedroht ist.

Hässliche Wahrheit

Es gibt Sätze, die sind zu wahr, um schön zu sein.

Stärken und Schwächen

Nicht ihre Stärke macht Menschen gefährlich, sondern Verlegenheiten, Peinlichkeit, Scham, Niederlagen. Die Größe der Ohnmacht bestimmt das Ausmaß ihrer Unberechenbarkeit.

Die Weltfremdheit des Dünkels

Dünkel entsteht, wenn das Denken sich für so überlegen hält, dass es seine Weltfremdheit noch als Vorzug unter die Leute bringen will.

Mitten im Sturm

In politisch stürmischen Zeiten kann gesellschaftlicher Stillstand, über den alle Welt sich aufregt, den Anschein erwecken, als sei da jemand besonders standhaft. Sich nicht umwerfen zu lassen ist nicht einmal ein schaler Ersatztitel für den, der Umwerfendes angekündigt hatte. Beharrlichkeit kann von beidem künden: von Prinzipientreue wie vom Starrsinn.