Monat: November 2022

Die Verkleinerung des Gartens

Merkwürdige Beobachtung: Immer, wenn die Blätter gefallen sind, wirkt der Garten plötzlich kleiner. Was ist geschehen? Das nackte Geäst der Baumkrone, die dürren Stauden lassen die Übergänge härter erscheinen. Die Grenzen zwischen den Figuren verschwimmen nicht im saftigen Grün, sondern sind schärfer zu sehen: Kirschbaum und Rosenhecke vereinzeln, die Zweige des Flieders zeichnen sich genau ab vorm Eibendunkelgrün am Grundstücksrand. Und der markiert unversehens klar, dass dahinter das Eigene aufhört.

Gleiches Recht

Rechtsstaat heißt der Staat nicht, weil er mit Hilfe des Gesetzes zur Ordnung rufen kann, sondern weil er den Bürger so vor der durchgesetzten Souveränität des Gemeinwesens im Einzelfall schützt. Das Gewaltmonopol, das nach Artikel 20 der Verfassung vom Volk ausgeht, schließt die Verpflichtung ein, sich einer gemeinsamen Instanz zu unterstellen, die überhaupt erst die Abgabe von Macht und Zwang an eine höhere Organisation erlaubt hatte. Freiheitliche Formen der Vergesellschaftung bilden sich in dem Augenblick, da Individuum wie Institution anerkennen, dass sie nicht als letzte Instanz friedlich fungieren können.

Für den Ingenieur

Inkonsequent ist die Ingenieurskunst, wenn sie die Lebenszeit, die sie durch die Vereinfachung der Technik schenkt, durch die Verkomplizierung der Gebrauchsanleitungen wieder nimmt.

Das ist das Allerletzte

Wer glaubt, absolut im Recht zu sein, meint zugleich, sich jedes Unrecht erlauben zu können. Die letzte Chance, der letzte Platz, das letzte Mal – solche Vorstellungen vom Ultimativen hebeln das Grundgesetz der Hemmung aus: dass mit dem Handeln die Frage aufkommt, was man danach tut. Was schon im Namen „Letzte Generation“ widersprüchlich dramatisiert, wogegen die Gruppe kämpft: dass nach ihr die Sintflut komme (sie will ja gerade vermeiden, letzte Generation zu sein), spiegelt sich wieder im stillschweigenden Zynismus ihres Aktivismus. So nimmt sie für sich jene Haltung in Anspruch, die sie bei ihren Gegnern anprangert: dass sie sich nicht um die Folgen und Nebenfolgen ihrer Aktionen schert.

Verteidigung der Vielfalt

Die Verteidigung der Vielfalt hat immer ein Problem: sich zu einer einzigen Stimme zu organisieren, ohne die Pluralität der Perspektiven aufzugeben.

Heiligenbilder

Das Zwischenreich der Heiligen, die als bessere Ausgabe des Menschen geadelt in die Rolle des Fürsprechers gedrängt sind, der bei der himmlischen Obrigkeit ein gutes Wort einlegt für den verblendeten oder schwachen Sünder, ist konstruiert aus befremdlichen Elementen einer Angsthierarchie, die allenfalls noch in schlecht geführten Unternehmen vorkommt: ein zorniger Chef, der vom netten Bereichsleiter besänftigt werden muss, weil der Lehrling mal wieder Mist gebaut hat. Das sind nicht die Vorstellungen, durch die eine Religion in der Moderne bestehen kann. Nicht über die Anrufung, Fürbitte zu leisten, sondern als Vorbilder der Souveränität, als stellvertretend Leidende, als unbedingt liebende Menschen, denen es im Letzten nie um sich ging, verdienen sie Anerkennung. Die oft peinliche Verehrungsfolklore aus Aberglaube, Voodoozauber oder Devotionalien bildet einen trüben Bodensatz aus Irrationalität, die zwar jede Religion lebendig hält, welche aber in einer Welt keine Zukunft hat, die darum ringt, ihr eigenes Potenzial an Unvernunft nicht ständig zum Widervernünftigen hin unterbieten zu müssen, sondern sich aufrichten ließe von dem, was mehr als vernünftig genannt zu werden verdiente.