Monat: Dezember 2022

Abschied vom Jahr?

Dass Leben lernen bedeutet, sich verabschieden zu können, ist eine alte Weisheit, die Sigmund Freud als Grundmotiv seiner Psychoanalyse verwendet hat. Wer nicht fähig ist, zugunsten des Realitätsprinzips Vorstellungen von sich selbst zu begraben, wird vielleicht nicht von seinen Träumen, aber von seinen Träumereien auf gelegentlich sozialunverträgliche Irrwege geführt. Die Kunst ist immer, im Guten auseinanderzugehen, und damit zurechtzukommen, dass sich nicht selten erst zeigt, was man hatte, wenn man es nicht mehr hat. Zum wahren Wert gehört nicht unwesentlich das Vermisstwerden. Wir verabschieden ein Jahr. Aber stimmt das? Es sind Menschen, die in ihm gegangen sind, Beziehungen, die zerbrochen, Erwartungen, die gestorben, Hoffnungen, die begraben sind. Und mit ihnen keimen frische Wünsche auf, schlägt Zuversicht einen Bogen ins Weite, geben neue Verhältnisse Anlass zu vertrauen. Beides nehmen wir mit ins Morgen, vielleicht in anderer Weise, als Erinnerung oder als Plan. Die Zäsur eines Jahreswechsels lenkt die Aufmerksamkeit darauf: dass bei allem, was wir (bei-)behalten, sich zwingend die Formen ändern. Und mit diesem Übergang die Aufgabe gegeben ist, sie zu gestalten.

Der indiskrete Blick

So faszinierend es zuweilen ist, dabei beobachtet zu werden, wie man während des Sprechens seinen Gedanken erst findet (es sind die erwartungsvollen Blicke wie Fragen, die auf Erwiderung drängen), so beklemmend ist das Gefühl, wenn einem einer beim Schreiben über die Schulter schaut. Was macht den Unterschied? Die Rede ist eine Variante des Dialogs, auch wenn nur einer sich äußert; der Text ist eine Form des Monologs, auch wenn ihn viele lesen.

Anregung, Erregung

Keine Kunst ist so sehr angelegt auf den Widerhall, der mit dem schlichten Echo nicht verwechselt werden darf, wie die Musik und die Architektur. Sie affizieren den Menschen, indem sie ihn einnehmen und aufnehmen in Räume, Atmosphären, Stimmungen, denen er weniger durch Reflexion entspricht als durch Anregungen des Eigenen. Nicht ohne Grund sucht das Denken sich Umgebungen, in denen es, sanft erregt von harmonischen Tonfolgen oder eingehüllt von einem spannungsreich gestalteten Ort, sich zu Höchstleistungen aufschwingt. In einem Dialog zwischen Sokrates und Phaidros schreibt Paul Valéry von der tiefen Verwandtschaft der Architektur und der Musik mit uns: „Es gibt also zwei Künste, die den Menschen in den Menschen einschließen, oder vielmehr die das Wesen einschließen in sein Werk und die Seele einschließen in seine Handlungen und in die Ergebnisse seiner Handlungen … Die Musik und die Architektur lassen uns an etwas anderes denken als sie selbst.“*

Eupalinos oder der Architekt, Werke 2, 35.37

Krisenkampf

Im Wettbewerb der Krisen untereinander gewinnt in der Regel das drängendste Problem. Wir haben gelernt, nach Lösungen erst zu suchen, wenn die Schwierigkeit sich genau genug aufgetan hat. So lange die Frage sich nicht stellt, lässt sich als Antwort nichts identifizieren. Vorbereitet zu sein bedeutet nicht, auf alles sich eingestellt zu haben. Es ist vielmehr die Fähigkeit, die Methoden zu kennen und zu beherrschen, mit denen Auswege zu beschreiten sind, wenn sie gefunden werden müssen.

Zur Lage der Nation

„Ich möchte alle Menschen auffordern, über ihre Lage nachzudenken und sich vernünftige Begriffe von ihr zu machen. Es kann durchaus sein, dass sie unter einer guten Regierung leben, ohne es zu merken. Denn das politische Glück kennt man erst, wenn man es verloren hat.“*

* Montesquieu, Meine Gedanken, Nr. 2001, 353

Heute geschlossen

Der noch unerfüllte Wunsch inmitten von Geschenkebergen nach Festbratengelage und Verwandtschaftsinvasion: ein Paar Augenlider, auf denen steht „Heute geschlossen!“

Familienfeier

Es könnte den Verlauf des familiären Festwochenendes glücklich befördern, wenn ein nicht unwesentlicher Aspekt der weihnachtlichen Botschaft, der nämlich, sich nicht rechtfertigen zu müssen, bis ins letzte Glied vorgedrungen wäre.

Das Unwahrscheinliche und das Unmögliche

Hoffnung ist jene Form der Verzweiflung, die sich nicht aufgegeben hat. Von aller Erwartung bleibt nichts als das Unwahrscheinliche. Man kann ihr nicht anders entsprechen als in der Rede von einem, dessen vornehmste Eigenschaft bedeutet, dass ihm kein Ding unmöglich ist (Luk. 1,37). So erfährt eine Welt, die sich längst nichts mehr schenkt, dass in jedem Geschenk das Urteil und dessen Aufhebung sich versteckt, es nicht verdient zu haben. Frohe Weihnacht!

In den letzten Zügen

Die Freundin: „Du siehst glücklich aus.“
„Ach ja?“, erwidert er. Woran sie das denn erkenne?
„Am gelösten Gesichtsausdruck.“
„Das ist die fehlende Kraft zum Ende des Geschäftsjahrs“, fügt er erklärend hinzu. „Der Kipppunkt ist offenbar schon überschritten, von dem an die Anstrengung sich in nachlassender Muskelspannung zeigt.“
„Meine ich doch: wie in den Momenten, da man am glücklichsten ist.“ Ein maliziöses Lächeln umspielt ihre Lippen.
Er wirkt nachdenklich. „Seltsam, dass das Glück sich kaum merklich unterschieden zeigt vom Zustand, nur fertig zu sein.“
„Wieso? Hat es nicht immer mit diesen Augenblicken zu tun, in denen man etwas hinter sich gebracht hat?“
„Aber ist es nicht wichtig, ob ich nicht mehr will oder nicht mehr kann?“ So meint er, der Sache auf die Spur zu kommen.
„Du verrennst dich.“ Sie behält dabei den leicht boshaft-überlegenen Ton. „Ich werde dich bei nächster Gelegenheit fragen und bin sicher, dass es dir dann egal ist, ob du nicht mehr willst, weil du nicht mehr kannst.“
„Pah!“
„Es gibt einen wichtigen Unterschied, mein Freund“, sagt sie: „… du musst nicht.“

Ein Fest für die Liebe

Unter den vielen Kräften, die der Liebe zugeeignet sind, gehört jene der Unmittelbarkeit und unbedingten Gegenwart zu den faszinierendsten. Wie ein Sog im Fluss, der alles verschlingt, lässt sie Gedanken an die Zukunft in ihren schönsten Augenblicken vollständig verschwinden: Keine Sorgen, keine Ängste, keine Beklemmungen kommen hoch, nicht einmal die Hoffnungen, die sich mit ihr dauerhaft verbunden haben, beflügeln Phantasien. Sie könnten ja Zweifel wecken. Wer liebt, ist ganz bei sich, weil er ganz bei einem anderen ist, so dass er ganz präsent ist. Der jüngst gestorbene Philosoph Dieter Henrich hat einen kleinen Band geschrieben über ein neutestamentliches Wort*, das diese Erfahrung der Liebe verdichtet: „Die Liebe, die eine Zugehörigkeit auch jenseits der Abhängigkeit in gegenseitiger Attraktion gründet, hat die singuläre Eigenschaft, dass die Sorgen des Alltags und vor der Zukunft ihre bedrängende Realität verlieren. Sie können sich vor der Gegenwart liebender Gemeinschaft zu Schemen aus einer anderen Zeit und Abhängigkeit abschwächen und in unbestimmte Ferne rücken.“**

* 1. Joh. 4,18
** Dieter Henrich, Furcht ist nicht in der Liebe, 41

Was not tut

Bei dem vielen, das vor dem Jahresende noch zu erledigen ist, bleibt nach getaner Arbeit kaum die Befriedigung, es erledigt zu haben, als die Befindlichkeit, erledigt zu sein.

Sprachloser Glaube

In ihrer Angst vor gesellschaftlicher Bedeutungslosigkeit greift die Kirche zu Maßnahmen, die sie theologisch irrelevant werden lässt. Mehr als dass die Welt sie nicht mehr braucht, sollte sie allerdings fürchten, dass sie für jene nicht mehr von Belang ist, die noch glauben. Am Ende entscheidet sich immer, ob einer allenthalben gehört wird, an der Frage, ob er etwas zu sagen hat. Unter den vielen bildreichen Szenen der Weihnachtsgeschichte geht oft unter jener eine stille Augenblick, in dem nur angedeutet wird, dass die, durch die das Wort Fleisch geworden ist, zugleich auch die sei, die alle Worte in ihrem Herzen bewahrt hat. Gewiss waren das weder Sätze betulicher Ermahnung noch Moralgebote, keine linkischen Anbiederungen ans Tagesaktuelle oder wirkungslose Friedensappelle, auch nicht peinliche Rechtfertigungen und befremdlicher Trotz. Sondern: Gesten des Trosts, der Befreiung und des Muts, der Barmherzigkeit, der Versöhnung und der Zuversicht.

Ohne Verzicht kein Genuss

Der Vorteil von Erfahrung besteht weniger in der Fülle dessen, was man schon erlebt hat, als in der wachsend genauen Kenntnis dessen, was zu erleben nicht lohnt.

Zwei Sehnsüchte

Die eine Sehnsucht, die viele mit den nächsten Tagen der Festfolgen verbinden, dass sie der Welt entkommen, indem Ruhe einkehrt in das Geschehen (die regelmäßig schlechten Meldungen aus den Nachrichten verschwinden, die Rechnungen in der Post verebben, der Kurzurlaub Entspannung schenkt), dieser Wunsch nach Weltferne trifft in der Feier der Weltnähe Gottes zu Weihnachten auf seine Gegendynamik. Wenn diese zwei widergericheten Bewegungen nicht aneinander vorbeilaufen, ist die Chance groß, dass aus der Verbindung von Weltflucht und Zur-Welt-Kommen Weltveränderung erwächst.

Meiner ist größer

Das Pärchen sucht einen Baum fürs Fest und schlendert unentschlossen zwischen den mannshohen Fichten und den meterlangen Nordmanntannen hin und her. „Was soll’s denn sein?“ Seit ungezählten Jahren kennt der Verkäufer seine Stammkundschaft, die Gelegenheits- und Schnäppchenjäger, den einsamen Alten und eben die, die zum erst Mal Weihnachten zusammen feiern. Und noch nicht recht wissen, wie. „Schatz, schau mal“, ruft sie aus der Ecke mit den kurzgeratenen Gewächsen, „so ein kleiner ist doch auch süß“. „Der kommt mir nicht ins Haus“ erwidert er bestimmt. „Zu mickrig. Außerdem nadeln die Fichten viel zu schnell. Stimmt’s?“ Mit sicherem Griff packt der Verkäufer zu einer stattlichen Tanne, mindestens deckenhoch, eher was für Treppenhäuser und Foyers, und präsentiert sie ihm. „Das ist er. Ich bin sicher. Was sagen Sie?“ Das Pärchen schaut, sie verunsichert, er beherzt. „Meinst du nicht, dass unser Wohnzimmer zu klein …?“ Da hat er sie schon unterbrochen. „Gekauft. Den nehmen wir. Der ist ein bisschen wie ich: stark, groß, mit offenen und kräftigen Armen. Der passt.“ Sie will noch widersprechen, da hat er schon den Geldschein aus der Tasche gezogen. „Stimmt so“, sagt er, von sich und seiner Entscheidung fest überzeugt. „Wenn du dich da mal nicht täuschst“, meint sie nur leise, als hätte sein Entschluss längst größere Auswirkungen zu erwarten als nur die Frage, ob Kugeln und Lichterkette reichen für das mächtige Stück, das zu Hause wohl noch ordentlich eingekürzt werden muss.

Schroffe Fassade

Es gibt eine Schüchternheit, die zunächst nicht anders erscheint denn als Schroffheit.

Winterwunderland

Die Weihnachtsmärkte, so voll wie ehedem. Die Gespräche beim Glühwein, so ausgelassen wie ausfallend. Der Reibekuchen am Stand, so ranzig, als sei das Fett aus der Vorsaison. Das Wetter, eiskalt. Die Kerzen, verrußt. Die Musik, nervig. Es ist alles zuckergussheimelig wie immer. Nur die Welt ist inzwischen dunkler geworden, ratloser und härter, ängstlicher oder ärmer. Mit ihr stimmt es so gravierend nicht, dass sich trotz allem die kindliche Vertrautheit aus Gewürzduft und Glockengebimmel nicht einstellen will. Verlogenheit legt sich wie nasser Schnee schwer auf die Stimmung. Der Budenzauber ist verflogen. Als passte alles für die Geschichte von einer Welt, die sich mit sich selbst so überfordert hat, dass schon ein Gott kommen muss, sie von sich zu erlösen …

Der Narzisst vor hundert Jahren

Eine Lesefrucht:

„Wie doch die Menschen einander das Leben unklar und schwer machen. Wie sie einander herabsetzen, zu verdächtigen und zu verunehren bestrebt sind. Wie doch alles nur geschieht, um zu triumphieren. Was sie zu tun unterlassen, daran sind Äußerlichkeiten schuld, was sie verfehlen, das haben sie nie selbst verbrochen. Immer ist der Nebenmensch nur ein Stein im Weg, immer ist die eigene Person das Beste und Höchste. Wie man sich Mühe gibt, sich zu verschleiern, in der Absicht, weh zu tun. Wie sehnt man sich oft nach offenkundigen, ehrlichen Grobheiten. Das Herz tönt wenigstens in den Wutanfällen. Sonderbar ist, wie wenig ernst die Menschen einander nehmen, wie sie tändeln im Ton der Missachtung mit dem Edelsten, Kostbarsten und Bedeutungsvollsten.
Und wie sie nie ermüden, zu nörgeln, wie sie nie auf den einfachen Einfall kommen, zu hoffen, es gebe Großes, Gutes und Redliches auf der Erde. Dass die Erde das Ehrenwerte sei, will ihnen, so einleuchtend das auch ist, niemals einleuchten. Nur vor ihren eigenen Tändeleien empfinden sie den Respekt, der der Welt, dieser Kirche voller Majestät, gebührt. Wie sie ernst nehmen, was sie sündigen, wie sie noch nie, solange sie erwachsene Menschen sind, geglaubt haben, etwas Feineres und Beherzigenswerteres könne existieren, als sie selber. Wie sie das Unanbetenswerte immer und immer wieder anbeten, das uralte goldene Kalb, das ausdruckslose Scheusal, wie sie emsig glauben ans Unglaubwürdige. Die Sterne bedeuten ihnen nichts, sie meinen, das sei etwas für Kinder: doch sie, was sind sie anderes als unartige Kinder, versessen in das, was man nicht tun soll. Wie sie Angst um sich herum zu verbreiten wissen, im Bewusstsein, dass sie sich selber immer ängstigen vor irgend einem dunklen und dumpfen Etwas. Wie sie sich sehnsüchtig wünschen, nie Dummheiten zu begehen, während doch gerade dieser unedelherzige Wunsch das Dümmste ist, was unter der Sonne empfunden werden kann. Sie wollen die Klügsten sein und sind die denkbar Elendesten … In der Tat, sie geben zu Bedenken Anlass.“*

* Robert Walser, Bedenkliches, in: Phantasieren. Prosa aus der Berliner und Bieler Zeit, 102f.

Das Problem bin ich

„Nicht einmal mehr zwei Wochen“, stöhnt sie. „Ich habe noch nicht ein einziges Geschenk.“
„Willkommen im Club“, sagt er nüchtern. Und fügt an: „Der Trend geht übrigens zum geschenkefreien Fest. Es kommt doch vielmehr auf die inneren Werte an, die so ganz und gar nicht zum leeren Zeitvertreib in Internetshops und dem freudlosen Hetzen durch die City passen.“
„Höre ich da einen heimlichen Wunsch? Das Raunen phantasieloser Bequemlichkeit?“
„Ja. Lass uns dieses Jahr nichts schenken. Okay?“
„Du bist nicht das Problem.“ Er zuckt zusammen und reagiert nicht. „Was ist?“
„Ich bin vielleicht nicht das Problem“, erwidert er. „Aber jetzt habe ich eins.“

Das Kalkül der Kontrolle

In einer überkomplexen Welt ist die beste Art, mit allem zu rechnen: sich souverän überraschen zu lassen. Die präzise Erwartung richtet sich nicht an das, was kommt, sondern an den, der erwartet. Kontrolle gelingt nur als Selbstdisziplin.

Flaches Theater

Ohne die Vertikaldimension des Lebens – Höhen und Tiefen – taugt dessen Horizontaldimension – Herkunft und Zukunft – nicht zur Erzählung. Geschichten sind immer mehr als Chronologien. Sie geben Auskunft über Abgründe, Fallen, Emphasen, handeln von den Verirrungen und den Verhältnissen, die einer entwickelt hat zu seiner Neigung, Umwege zu gehen; kurz: sie beginnen nicht einfach, sondern fangen an, und hören nicht schlicht auf, sondern enden.

Jenseits gesunder Skepsis

Es gibt nur ein Versprechen, dem unbedingt zu glauben gerechtfertigt ist: das der Liebe.

Das Geheimnis der Gewinner

Du hast das Spiel verloren in dem Augenblick, da du es für selbstverständlich nimmst.

Formen der Freiheit

Angst ist die Form der Freiheit, die vor sich selbst erschrocken ist.