Monat: Oktober 2022

Anspruch und Zuspruch

In seinen Thesen zum vorherrschenden Zustand der Kirche vom 31. Oktober 1517 legte Luther den reformatorischen Fokus auf das Predigtwort, das den Hörer so anzusprechen habe, dass dieser von ihm ergriffen sein Leben ändert. (Thesen 35, 54, 92 – 95) Zu predigen, das sei das „höchste Amt“* in der Christenheit, eine Verantwortung, an der sich über die Fähigkeit, sinnvoll zu lehren und tröstlich zu ermahnen, alles entscheidet. So manche neureformatorische Idee dieser Tage, die sich in der Tradition der Kirchenrettung wähnt, verkennt hingegen die Radikalität der Sache und verniedlicht sie zu einer Form, die vor allem zeitgemäß und gefällig zu sein habe. Ohne die Zumutung, die im Zuspruch der Gottesrede steckt, verliert aber die Predigt ihren Anspruch, auch wenn sie noch so ansprechend formuliert ist.

* So Luther 1523 in seiner Schrift „Dass eine christliche Versammlung oder Gemeine das Recht oder Macht habe, alle Lehre zu urteilen und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen, Grund und Ursach aus der Schrift“, Werke 2, 402: „So es doch das aller hohist ampt ist, …“

Zur Stunde

Die geschenkte Stunde zu Beginn der Normalzeit und die geklaute am Anfang der Sommerzeit lassen sich verstehen als verdichtete Lebensmomente, in denen sich mehr zeigt als nur Zugewinn oder Verlust eines Tagesmaßes. Was haben wir heute gemacht mit der gewonnenen Frist? Was macht sie mit uns? Länger geschlafen; sie vertändelt; erledigt, was liegengeblieben war? Wofür haben wir sie genutzt? Und was genau fehlte uns im nächsten Frühjahr, wenn die Uhren wieder umgestellt werden? Darüber Auskunft zu geben, könnte hinweisen auf eine Vorstellung vom prallen Leben. Was das ist? Wohl nichts, was der Zeit selber als Eigenschaft angehörte. Es gibt zwar erfüllte Stunden, aber das ist eher jene Art des Daseins, die uns vergessen lässt, was es bedeutet, nur begrenzt Zeit zu haben. Michael Theunissen fasst es so: „Je auffälliger Zeit wird, desto sinnleerer wird unser Leben.“*

* Negative Theologie der Zeit, 45

Fallobst

Ganz oben in der Baumkrone hängt im Herbstlicht rot leuchtend einsam ein Apfel. Der Obstpflücker an der langen Bambusstange reicht nicht hin, trotz ausgestreckten Arms. Rütteln hilft nicht; der Ast ist dem Stamm zu nah. Als grinste er überlegen ob der hartnäckigen Widerständigkeit gegen die Ernteattacke beansprucht er sein Recht, daran zu erinnern, dass ein fruchtbarer Ertrag kein Ergebnis unausgesetzter Effektivität darstellt. Früher blieb der zehnte Teil den Göttern vorbehalten oder dem irdischen Regionalfürsten, das Erntedankopfer nimmt diesen Brauch bis heute auf. Zwischen Anbau, Pflege und letzter Lese steht der Dank als Zeichen, dass nicht alles Wachstum das Machwerk des Menschen ist. „Zwischen den Arbeiten liegt, beinahe als ihr bestes Teil, immer das Warten: nicht das Warten auf den Anschluss im mechanisierten Verkehr mit der Uhr in der Hand, sondern das Erwarten dessen, was von Natur und aller Erfahrung nach kommen wird“, so beschreibt Hans Freyer die Grenze der Instrumentalisierung.* Wer nicht versteht, dass ein nicht unbedeutender Teil des Handelns darin besteht, nichts zu tun, hat nicht begriffen, was Erfolg genannt zu werden verdient.

* Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, 15

Beschreibung der Gegenwart

Der Mensch ist das Wesen, das die Welt und sich mit sich selbst überfordert.

Machtgesten

So groß die Macht, so kleinlich oft deren Gebrauch. Kleinlich ist die moralische Form, die sich am ethischen Anspruch der Größe vergeblich hat messen lassen müssen. Die Territorialkämpfe, die in den Fernzügen täglich stattfinden zwischen denen, die eine Sitzplatzreservierung in der Hand den allzu frechen Fahrgast vom zugewiesenen Ort mit insistenter Andeutung des Rechts vertreiben, obwohl sonst viele Reihen unbesetzt sind, mag ein dezenter Hinweis sein, worin der substanzielle Sinn von Macht bestehen könnte: in deren Verzicht, der von der Begünstigung bis zur höchsten Form der Begnadigung etliche schöne Ausdrucksarten erlaubt.

Mach ich selbst

Autarkie heißt die egoistische Variante der Freiheit.

Teilnahmslosigkeit

Es ist die Fähigkeit, Partei zu ergreifen, die den Menschen über das Eigene hinausdenken lässt.  Das Wir, das als gemeinschaftliches Subjekt sich immer wieder neu bilden muss, weil verbundene Interessen tendenziell nach konfliktreicher Auflösung streben, gewinnt seine Stabilität nicht zuletzt durch starke Gegnerschaft. Auch die anderen sind „Wir“, aber eben nicht so wie wir. Ich bin nicht nur Teil von irgendwas, einer Nation, einer Religion, einem Geschlecht, sondern nehme auch teil an diesem oder jenem, einer Protestbewegung, einer großen Idee, an einem Sportereignis. Und dann gibt es Zeiten, in denen man sich die Finger dadurch schmutzig macht, dass man glaubt, die Finger davon lassen zu können. In der Krise ist es keine Option, unparteiisch zu sein, selbst nicht für die, die überparteilich handeln müssen.

Schuld und Trost

Es ist unvernünftig, sich gegen Ereignisse und Tatsachen aufzulehnen, für die man nicht verantwortlich ist und die sich nicht ändern lassen. Man nennt sie Ärgernis, was so viel bedeutet, dass der eigene Ärger nichts bewirkt. Es ist unvernünftig, aber nicht unsinnig. Vieles, was in Aberglaube und Magie, Esoterik, nicht zuletzt in der Religion als letzte Instanz beschworen wird, hat seinen Ursprung als Stellvertretung gegenüber der erlebten Ohnmacht, der dann entweder die Schuld zugeschrieben wird für die Misere oder die Trost spenden soll.

Real existierende Ausrede

Was früher deutsche Servicewüste hieß, hat abermals einen neuen Namen bekommen. Wenn Ämter und Behörden, Bahn oder Post nicht noch auf die Pandemie verweisen, die das verhasste Dienstleistungsideal der Bürgernähe zum willkommenen Schrecken hat mutieren lassen, so verweigern sie heute Einlass oder Beförderung mit dem Hinweis auf kurzfristigen Personalausfall. Wirkliche, allgemeine Nöte wie der augenfällige Mangel an Arbeitskräften taugen für allerlei Ausflüchte, auf die, das ist das boshafte Kalkül, keiner anders reagieren kann als mit Bedauern und Verständnis.

Ans Licht

Es ist eine einigermaßen armselige Vorstellung zu meinen, die Entdeckung von Wahrheit erschöpfe sich darin, dass eine Sache ans Licht geholt wird. Man kommt ihr schon näher, wenn man gezwungen ist zu rechtfertigen, aus welchem Blickwinkel man sie beleuchtet.

Das ungeschriebene Buch

Besuch auf der Bücherschau: die Herbsttitel in den Regalen springen ins Auge, von den Frühjahrsbestsellern blass durchsetzt. Es sind, wie immer, zu viele. Und doch drängt sich die Frage auf – nicht nach dem, was neu ist und gelesen werden muss, sondern – nach dem einen Band, der fehlt, dem einen Buch, das zu orientieren hilft in einer Welt, die sich mit sich selbst zunehmend zu überfordern scheint, nicht unterkomplex, aber überfällig, aus einem Guss, dennoch mehr als ein Gedanke, darunter der, dem gelingt, das Staunen zu evozieren – über ihn und das, was er so einfach erhellt, dass man sich fragt, warum keiner bisher darauf gekommen ist. Oder gibt es das schon … ?

Logisch

In einer Argumentation kommt es nicht nur darauf an, von Fakten zu sprechen. Man muss auch darauf achten, dass sie zu den Schlüssen taugen, die sie begründen. Viele lassen sich täuschen von der Exaktheit der Tatsachen, weil sie die Logik der Folgerungen nicht kennen.

Wie es sich verhält

Ein Wandel im Verhalten, der nicht zugleich von einer Änderung der Haltung begleitet ist, lässt das Handeln oft als verlogen, leer, aber korrekt oder aufgesetzt erscheinen. Man mutet der Form zu viel zu, wenn man von ihr verlangt, den Inhalt zu ersetzen. Die meisten Menschen haben ein genaues Gespür für Atmosphären und Authentizität; die allerdings sind anders als das Äußerliche nichts, was sich ohne weiteres im Modus des Operablen umgestalten ließe. Entscheidendes lässt sich nicht lernen wie der Gebrauch eines Werkzeugs.

Zynismus als organische Reaktion

Man kann Zynismus, sofern es sich um die Form achselzuckender Teilnahmslosigkeit handelt, auch als eine organische Reaktion verstehen: Da hat einer im „Wissen“, wie eine Sache ausgehen wird, keine Lust oder keine Kraft mehr, sich zu engagieren. Roland Barthes zitiert in der Seminarsitzung vom 25. Februar 1978 über „das Neutrum“ den Schriftsteller Maurice Blanchot: „,Müdigkeit ist das geringste der Missgeschicke, das neutralste der Neutra, eine Erfahrung, die, wenn man sie wählen könnte, niemand aus Eitelkeit wählen würde … Aber die Müdigkeit ist gerade ein Zustand, der nicht besitzergreifend ist, der absorbiert, ohne in Frage zu stellen.‘ Das ist sehr gut gesagt, dem ist nichts hinzuzufügen, es sei denn: Ist Müdigkeit der Preis dafür, nicht arrogant zu sein?“*

* Das Neutrum, 53

Die Macht des Richtigen ist die Ohnmacht des Interessanten

Es ist die Angst, Falsches zu sagen und inkorrekt zu sein, die das richtige Wort das interessante Wort abwürgen lässt. Interessant wird es erst wieder dann, wenn wir nichts richtig machen können. Man nennt das Krise.

Weltgericht

„Jetzt wäre die Zeit, Dante, für ein genaues Weltgericht.“ So schreibt es Elias Canetti nach der großen Katastrophe im August 1945*. Wie könnte dessen Genauigkeit heute aussehen, da die Welt sich wieder in sich selbst entmutigend verstrickt? Es wäre, weil schon immer mit dem Jüngsten Tag die Hoffnung verbunden ist, dass alles ans Licht kommt und zu radikaler Differenzierung führt zwischen Gut und Böse, Wohlgesonnenheit und Schwäche, Niedergeschlagenheit und Niedertracht, ein endloses Unterfangen. Denn zu jeder Haltung und jedem Motiv gesellt sich ein Widerspruch, der nicht aufzulösen ist. Das letzte Wort müsste ausbleiben, außer dass allen klar zu machen wäre, auf einen eleganten Ausgang nirgendwo setzen zu können, selbst bei denen nicht, die in bester Absicht gehandelt haben. Präzision im Weltgericht könnte nur darin bestehen, dass eine Unterscheidung zu maximaler Geltung gereift ist: für niemanden Freispruch, aber für alle die Hoffnung auf Gnade. Eine skandalöse Vorstellung.

* Die Provinz des Menschen. Aufzeichnungen 1942 – 1972, 94

Mein Ex-Café

Das Lieblingscafé in der Stadt hat geschlossen, für immer. Und mit ihm verschwinden nach und nach die Erinnerungen an so manches launige Gespräch mit dem Freund am Samstagmorgen, in dem die Woche noch einmal wohltuend nacherlebt und nachbesprochen wurde, aufgeräumt und abgelegt zwischen den letzten Krümeln des ofenfrischen Croissants und dem ausgelöffelten Schälchen mit Himbeermarmelade. Dann der dritte Espresso vor dem Gang zum Erzeugermarkt. Es war ein Ritual des Ausklangs, ein Ort der Befreiung, an dem der aufgestaute Ärger verlacht und die Alltagssorgen, kaum ausgesprochen, vom Kaffeeduft überlagert waren. Nun verblasst diese schöne Gewohnheit wie die Wandfarben hinter dem ersten frischen Anstrich der neuen Nutzer, die die Räume für andere Zwecke herrichten. Tristesse oblige. Aber wozu? Der Ärger und die Sorgen, die wilden Ideen oder Flausen im Kopf brauchen eine neue Heimat, damit sie nicht durch die Seele irrlichtern, ohne sortiert werden zu können. Das erste Ausweichquartier für den Wochenendbrauch hat die Probe nicht bestanden.

Der Luxus des Hungers

In Zeiten, da Menschen sich hierzulande noch spürbar erinnern konnten, was es bedeutet hatte, Hunger zu leiden, hieß die diktatorische Maxime der deftigen Küche: Gegessen wird, was auf den Tisch kommt. Heute, da Unverträglichkeiten aller Art, von der Milchintoleranz bis zur Haselnussallergie den kulinarischen Alltag begleiten, gilt als heimliches Leitmotiv: Auf den Tisch kommt nur, was gegessen werden kann. Kochen ist zur Kunst des geschmacksteigernden Weglassens geworden.

Die Schärfe des Realitätssinns

Unter den vielen Zumutungen, die eine Krise an alle richtet, die von ihr betroffen sind, gehört der Zwang, sich Wahrheit auszusetzen, gewiss an die erste Stelle. Nichts schärft den Realitätssinn so wie eine Zeit, in der sich die Wirklichkeit verschworen zu haben scheint gegen die eigenen Pläne. Und nirgendwo ist die Gelegenheit größer, aus dieser Phase geraubter Handlungsoptionen herauszufinden, als dort, wo die schlichte Einsicht vorherrscht, eine Sache so anzunehmen und anzusprechen, wie sie ist. Neue Möglichkeiten entstehen in einer Krise aus der radikalen Anerkenntnis von Wirklichkeit. Und nicht wie in den Kreativphasen der Geschichte umgekehrt: dass neue Wirklichkeiten die Folgen sind von dem, was man sich mal ausgedacht hatte.

Zurück in Deutschland

In der Fremde von der Bestürzung gelesen, wie anfällig die heimische Infrastruktur schon bei kleinen Sabotageakten ist. Zurück in Deutschland, der erste Eindruck nach vergeblichem Warten auf den Anschlusszug: Es braucht keine mutwillig herbeigeführten Störungen, um Funktionen großflächig ausfallen zu lassen. Das System kollabiert von allein – nicht weil sich zu wenige um es kümmern, sondern zu viele.

Falsche Toleranz

Die Welt wird nicht freier und duldsamer, wenn wir aus falsch verstandener Toleranz Dummheit nicht mehr Idiotie nennen, sondern sie als „eine“ Meinung adeln und Ansichten Gehör schenken, die besser gar nicht erst formuliert worden wären. Ohne Ablehnung, auch harsche, können so schöne Tugenden wie Großmut, Gelassenheit, Aufgeschlossenheit oder Rücksichtnahme sich nicht ausbilden. Was keine Grenze hat, hat keine Wirklichkeit.

Vernichtung

Man darf die Allmachtsphantasie nicht unterschätzen, die mit der Lust an der Vernichtung einhergeht. Die schafft sich so den verkehrten Rausch eines Schöpfungsakts. Es ist für Menschen, deren Potential erkennbar nicht ausreicht, die Welt zu verbessern, weil ihnen das Gespür fehlt für Schönheit oder der Geist zu gestalten, die also in sich kalte, leere, ungerichtete Kräfte entdecken, immer schon eine Versuchung gewesen, zu zerstören. Vielleicht ist das eine Definition des Bösen: grund- und ziellose, inhalts- und sinnleere Kreativität.

Innenleben

Große Hotels – sie müssen nicht einmal Grand genannt werden – entwickeln hinter ihren Mauern ein Innenleben wie Klöster. Wer in sie eintritt, verlässt seine Realität und trifft dort auf Charaktere, die er sonst nur aus dem französischen Kino der Sechziger, Filmen des spanischen Regisseurs Almodóvar zu kennen meint, oder einer besseren Netflixserie, bunt, schrullig, überdreht, in vielem beschlagen und wohl auch ein wenig verschlagen. Man möchte diese Zufallsfremden grüßen als lose Bekannte des schönen Lebens und ahnt doch, dass jeder Übertritt ins Persönliche bestraft würde mit den immergleichen Geschichten, dem unerträglichen Smalltalk wild zusammengewürfelter Abendgesellschaften, dem hohlen Businessgeschwätz derer, die nichts interessiert als die Geschäfte, und in Wahrheit nicht einmal die. Solche Häuser sind stabile Stätten der Projektion, die beim Dinner nicht erst beginnt, das dekorativ serviert wird, als hätte es der berühmte Sternekoch komponiert, und zum Verlegenheitsflirt an der Bar nicht aufhört. Vollendet erscheint diese Parallelwelt, wenn selbst beim Verlassen des Orts, das sonst schnöde Check-out heißt, die poetische Form gewahrt und dem Reisenden vom Concierge das Angebot gemacht wird, noch ein paar Schritte Geleit zu geben bis zur Schwelle in die wirkliche Welt, die hier eine Drehtür ist, so dass selbst der Ausgang immer noch die tröstliche Gewissheit offeriert, dass es kurzfristig möglich ist zurückzukehren, einfach indem man weitergeht.

Hinter die Linien

Der universale Imperativ im Umgang mit einer Krise lautet: Handle so, dass du die Fähigkeit, selbstbestimmt zu handeln, wiedergewinnst und ausschließen kannst, noch einmal gezwungen zu sein zu Reaktionen, die du nicht willst. – Strategisch bedeutet das, Frontkämpfe als Ablenkungsmanöver zu inszenieren, um unbemerkt hinter die Linien zu kommen.