Monat: Oktober 2022

Drohpotential

Die Drohung ist ein Satz, bei dem die Frage, ob er wahr sei, vollständig abgebildet wird auf die Wahrhaftigkeit dessen, der sie ausspricht. Sie wirkt in dem Maße, wie – nicht der Aussage allein, aber – dem geglaubt wird, der mit ihr etwas verhindern will. Formal übersetzt funktioniert jede Drohung so: Zwinge mich nicht, meine Ankündigung wahr zu machen, indem du die Wahrhaftigkeit meiner Absichten nicht ernst nimmst. Das Wort wird genau so lang zuverlässig der Lüge gestraft, wie die Probe nicht gemacht wird, seinen Sprecher der Lüge zu strafen.

Liebst du mich noch?

Aus der Serie „Unendliche Beziehungskreisläufe“

Er: Liebst Du mich noch?
Sie: Ob ich Dich liebe? Was für eine Frage.
Er: Was für eine Antwort?!
Sie: Wie meinst Du das?
Er: Na, ja. Meist erwiderst Du mit einer Frage, wenn Dir die Sache unangenehm ist und Du einer Antwort ausweichen willst. Hast Du den Satz mit einem Ausrufezeichen beendet oder mit einem Fragezeichen?
Sie: Mit einem Punkt.
Er: Und das heißt?
Sie: Dass ich darüber nicht weiter reden will.
Er: Weiter nicht oder gar nicht?
Sie: …
Er: Siehst Du, Du stellst Dich dem Thema nicht.
Sie: Nein, Du nervst.
Er: Ich wusste es.
Sie: Dann frag doch nicht.

Gepflegte Feindschaft

Echte Freundschaft, das gilt im Großen wie im Kleinen, unter Institutionen und Individuen gleichermaßen, gedeiht prächtig – weniger durch gemeinsame Interessen als –, wenn sie ein identisches Feindbild pflegt.

Mehr ist weniger

Nirgends wird klarer als in Zeiten der Inflation, worin das Verhältnis zwischen Mehr und Weniger besteht, das in der numerischen Steigerung einen Verlust von Inhalt sieht. Ein Zuviel des Guten ist eben nicht mehr gut. Eine allzu hohe Geldmenge macht gerade nicht reich. Die Qualität einer Quantität, das sollte jedem Buddy von Statistik, Quote oder Chart die Grenzen zu denken geben, ist ein anderes Maß als die Quantität einer Qualität. Da gilt nicht: mehr oder weniger, sondern: weniger ist mehr. Was zählt ist das, was nicht gezählt werden kann.

Friedensordnung

Die Qualität eines Friedens hängt maßgeblich davon ab, Niederlagen, denen er gefolgt ist, nicht auch noch als Demütigung auffassen zu müssen. Im Zeitalter des Narzissmus* ist das die politische Kunst.

* So kennzeichnete Christopher Lasch schon 1979 die Gegenwart

Zurückgeblieben

Welcher Euphemismus in der Trauerwendung steckt, dass da einer von uns gegangen sei, der seinen Weg vielmehr beschlossen hat, lässt der andere Satz über das Ende in der gebotenen Klarheit aufscheinen: Es ist immer das Leben, das weitergeht. Sterben heißt pietätlos zurückgelassen werden. Doch so will es keiner ernsthaft hören müssen unter denen, die sich der zwangsläufigen Rücksichtslosigkeit nicht schuldig gemacht haben wollen, die in jedem steckt, der nach vorn strebt. Sie nennen sich, als hätte der Stillstand sie erwischt, selbstmitleidig die Zurückgebliebenen.

Woran die Psychologie scheitert

Verstanden zu werden unterscheidet sich vom Verstehen wesentlich. Wo dieses sich begnügt mit tiefer Einsicht, vielleicht im besten Fall mit der Entschlüsselung seelischer Strukturen bis in die Grundgeheimnisse eines Menschen hinein, verlangt jener, wenn er sich verstanden fühlen will, noch mehr: das Wissen, durch einen anderen nicht nur erkannt, sondern bei ihm in den entscheidenden Belangen gut aufgehoben zu sein.