Kategorie: Allgemein

Dusel im Gedankenfusel

Der schöne Redeschmuck der Alliteration, bei der die Stammsilben benachbarter Ausdrücke denselben Anlaut haben, zwang einst, in den Tiefen des Wortschatzes nach passenden Begriffen zu suchen. So sollte der Gedanke eingängig werden und leicht zu merken. In der gemeinen Konferenzpräsentation heute kommt der Gleichklang abgelöst von der Bedeutung vor: Erkennbar hat der Vortragende bei seiner Vorbereitung im Wörterbuch einfach ein paar Vokabeln zusammengeklaubt, die mit demselben Buchstaben beginnen. So zufällig zusammengestellt, kann einem schon mal Minuten später die Wiederholung schwerfallen wie der Bundeskanzlerin, die jüngst bei einer Tagung über die Zukunft der Telekommunikation nach dem dritten F-Wort suchte, das ihr Vorredner in eine Reihe mit Förderung und Frequenz gebracht hatte: Statt „Festnetz“ hätte es auch Firlefanz heißen können oder Flickwerk oder Fragment. Die Alliteration verliert ihre Form, wenn man ihr den Inhalt wegnimmt.

Vorurteilsfrei

„Wir sind eine Gruppe von Unglaublichen“, sagt der freundliche Marokkaner, um gleich die religiöse Brisanz aus dem Gespräch zu nehmen. Ungläubig staunt der Angesprochene, wie die Sprache in unfreiwilliger Komik die Hindernisse locker überwindet, die der allzu fromme Eifer geschaffen hat.

Futterneid

Es muss ein tiefsitzender Instinkt aus den überlebenskritischen Zeiten der Frühnatur sein, der den Genuss schmälert, wenn man sich die Speisen am Buffet auf den Teller legt. Gerade wo die Küche an den erlesensten Zutaten nicht gespart hat, überstrahlt am Ende das Grimmen eines allzu prallen Magens die Gaumenfreude. Der fordert im Anblick der Überfülle den vielmaligen Gang zur Tafel, als wüsste er nicht, wann die nächste Futterstelle erreicht wird.

Häuserkampf

„Eine einzige Stubenfliege kann uns mehr Not und Elend und Verzweiflung bescheren als Dutzende andere Ärgernisse, die die Natur ersonnen hat, um unseren Frieden zu vergiften und unser Wohlbehagen zu stören. Die ganze menschliche Findigkeit hat sich im heiligen Krieg gegen die Fliege erschöpft, und doch ist die Fliege heute noch immer, was sie schon zu Adams Zeiten war – unabhängig, dreist, zudringlich und unzerstörbar.“*

*Mark Twain, Ich bin der eselhafteste Mensch, den ich je gekannt habe. Neue Geheimnisse meiner Autobiographie, 4. September 1906, 350

Bitte bleiben Sie dran, wir verbinden Sie weiter

Die glatte Marketingfreundlichkeit, mit der Unternehmen ihre Servicemitarbeiter ausstatten – standardisierte Floskeln von ausgesucht hohler Höflichkeit –, steigert nicht nur die Ratlosigkeit des Kunden. Er fühlt sich vor allem schlecht, weil er nicht weiß, wohin mit seiner angestauten Aggression, wenn er auf jene wohldosierte Mischung aus sachlicher Inkompetenz und kompetenter Phrasenwendigkeit trifft, die allenthalben als clevere Dienstleistung ausgegeben wird. Angesichts von Menschen mit automatischen Antworten wünscht sich der Anrufer die Automaten mit menschlicher Stimme zurück, die er wenigstens noch hemmungslos anschreien konnte, ohne sich dabei entwürdigt zu fühlen.

7. Sonntagskolumne: Quantität

… Es ist der Fehlschluss unserer Zeit, dass sie die Quantität als eine Qualität erster Ordnung ansieht …

Aus den Tagesrationen. Ein Alphabet des Lebens. Das Buch erscheint im November.

Keine Zeit

„Ich habe keine Zeit“, ist ein unmöglicher Satz – nicht nur weil er als Affront verstanden werden muss von jedem, der um ein paar Augenblicke der Aufmerksamkeit gebeten hat. Sondern auch aus logischen Gründen, weil schon die Folge von ausgesprochenen Wörtern beansprucht, was sie zu haben negiert. Niemand hat keine Zeit; aber etliche haben viel Zeit für alles Mögliche, wenn es darauf ankommt, keine Zeit für alles Mögliche zu haben.

Karriereleiter

Auch Leidenschaften haben ihre Karrierechancen. Und sie können sie verpassen, indem sie aus der Zeit fallen. Wer empfindet heute noch, was Generationen vor uns als schamhaft wahrgenommen haben; wer denkt an Diskretion, wenn er die Homestory über einen Prominenten liest; wer weiß, was einst Edelmut, Tapferkeit, Kühnheit bedeuteten? Der Neid ist unter den quälenden seelischen Energien als nächster gefährdet. Er entstammt dem Zwang zu vergleichen und der Unfähigkeit, die so wahrgenommene Differenz zu anderen durch eigene Anstrengungen aufheben zu können. In dem Maße, wie die Messbarkeit von allem Möglichen zur Gewohnheit wird und der andere immer weniger interessiert, weil es vornehmlich um die vielen Gelegenheiten geht, sich selbst zu optimieren, verliert die Missgunst an Bedeutung.

Umleitung

Arno Geiger, der seinen an Demenz erkrankten Vater jahrelang gepflegt hatte und darüber ein berührendes Buch schrieb, berichtet, wie der fortschreitende Gedächtnisschwund überraschende Talente hervorbrachte. Da der Zugriff auf die gewohnten Begriffe zuwachsend beschränkt war, erfand der sieche Mann neue Wörter und entwickelte ein bis dahin ungeahntes erzählerisches Talent. Jede Krankheit besitzt und fördert ihre eigene Intelligenz: Sich auf den Umwegen des Lebens selbstständig zurechtzufinden, zählt gemeinhin zu den Vorzügen einer intakten und erfahrenen Vernunft.

Menschliches, Allzuunmenschliches

„Mir ist nichts Menschliches fremd“, sagte die Therapeutin einladend. Dem Klienten gefroren die Worte im Mund. Gerade noch wollte er vor ihr ein Geständnis ablegen, als er sich plötzlich unendlich einsam fühlte und begriff, dass es auf dieser Welt keinen unmenschlicheren Satz gibt als diesen. Sie kannte schon alles. Was sollte er ihr erzählen? Und warum überhaupt sprechen? Sie hatte ihn durchschaut, bevor er einen einzigen Laut von sich geben konnte. Dabei wollte er doch nur ein einziges Mal nicht erkannt werden, sondern bloß verstanden: als ein Wesen angesehen und anerkannt, das in der Lage ist, andere mit sich zu überraschen.

Wertvolle Würde, würdevoller Wert

„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ So wird der erste Artikel des Grundgesetzes im Absatz 1 üblicherweise zitiert. In dieser gekürzten Form bleibt offen, ob man sich an der Menschenwürde nicht vergreifen dürfe oder könne. Beschreibt der Satz etwas, oder schreibt er etwas vor? Und welche Art der Unantastbarkeit könnte gemeint sein, wenn Tag für Tag das Gegenteil geschieht: brutale und unterschwellige, öffentliche oder systematische Verstöße wider die Person? Der zweite Teil des Passus gibt da vorsichtig Aufklärung. Dort heißt es: „Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Man muss nicht schützen, was nicht angetastet werden kann; man brauchte nicht zu achten, was ohnehin nicht berührt werden könnte. Der grundlegende Eingang in die Rechtsetzung ist ein Wort über die Verletzbarkeit des Menschen und die daher notwendige Unverletzbarkeit von Prinzipien. Das Gesetz ist unantastbar.

Nachlese

Desorientierte Branche: Wohin steuert das Buch?

Desorientierte Branche: Wohin steuert das Buch?

„Schöner Umschlag, zu kleine Schrift“, fasst die kundige Freundin zusammen, was sie von dem Titel hält, der ihr vorgestellt wird. Im Rückblick auf die Buchmesse verdichtet dieser Satz den Eindruck, der nach den Besuchstagen haften bleibt: Die Buchstaben wandern aus ins Netz, auf die elektronischen Plattformen; es bleiben bunte, wohlgestaltete, vielformatige Cover. Gelesen wird anderswo, aber im Buhlen um Aufmerksamkeit ist alles aufgeboten. Das Zeichen entwickelt sich zum Kunstwerk, der Verweis auf einen Inhalt entfällt. So beeindruckt, greift der interessierte Leser ins Regal des Lieblingsverlags. Und schlägt einen Blindband auf.

6. Sonntagskolumne: Mode

… Woran man eine Mode erkennt? Deren erste und letzte Vertreter wirken immer komisch …

Aus den Tagesrationen. Ein Alphabet des Lebens. Das Buch erscheint im November.

Der Worte sind genug gewechselt

Die größte Gewissheit, die Worte vermitteln können, ist das Versprechen, sie seien so gemeint, wie sie gesagt wurden. Erst durch die Tat löst sich die zweifelnde Frage auf, ob das denn auch wahr sei. Die stärkste Skepsis, die sich an Taten anlegen lässt, ist die Unsicherheit, ob sie das auch bedeuten, was man sieht. Erst durch ein Wort bekommen sie jene Präzision, die sie vor dem hartnäckigen Argwohn schützen. Unzweifelhafte Klarheit ist ein nie ganz erfülltes Lebensideal, das mindestens nach beiden Sprachformen verlangt, der verbalen und der gestischen gleichermaßen.

Nichts ist alles

In einem berühmten Gespräch mit François Truffaut verrät Hitchcock das Geheimnis der Spannung in seinen Filmen, indem er auf den MacGuffin verweist. Der Meister des gepflegten suspense erzählt augenzwinkernd, dass das Wort ja wohl an Schottland erinnere und man sich dazu folgende Geschichte denken könne: Zwei Männer in der Eisenbahn unterhalten sich; der eine fragt den anderen, was das denn für ein Päckchen sei, das dieser mit sich führe. Daraufhin erwidert der: „Das ist ein MacGuffin.“ Ja, was das denn sei: ein MacGuffin? „Nun, das ist ein Gerät, mit dessen Hilfe man in den Bergen nördlich von New York Löwen jagen kann.“ Aber da gebe es doch gar keine Löwen, wundert sich der eine. „Ach, dann ist es auch kein MacGuffin.“ Hitchcock fasst zusammen, das Wichtigste, das er im Lauf der Jahre gelernt habe, sei, dass der MacGuffin überhaupt nichts ist.* Und beschreibt damit das Wesen guter Unterhaltung: Am Ende bleibt nichts als das Gefühl, gut unterhalten worden zu sein. Die Wirkung ruht auf keiner Wirklichkeit. Vielleicht haben viele unserer großen Wörter genau diese Eigenschaft: Sinn, Freiheit, Geld, Würde – größten Effekt bei geringster Essenz.

*Beispiele für ein MacGuffin: der Teppich im Film „The Big Lebowksi“ oder der Geldkoffer in „No Country for Old Men“.   

Zur Strafe

Fünfundzwanzig Jahre nach dem Mauerfall wird in diesen Tagen jener warnende Satz wiederholt, für den Gorbatschow berühmt geworden ist: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Hat eigentlich einmal einer gefragt, was das Leben mit denen macht, die zu früh kommen? Diese Propheten sind stets ausgestoßen, geächtet und ermordet worden, weil ihre Wahrheit niemand hören wollte. Das Beste, das ihnen noch passieren konnte, war die Erklärung, dass es sich um Verrückte handelt.

Das Los der Leser ist das Schicksal der Schreiber

Der alte Satz* des Terentianus Maurus, nach dem Bücher ihre Schicksale haben, muss in Zeiten des digitalen Drucks, der jedem erlaubt zu publizieren, was immer ihn zu veröffentlichen drängt, umgewendet werden. Heute gibt es kaum ein Schicksal, das nicht auch sein Buch hat.

* „Pro captu lectoris habent sua fata libelli“, lautet der Satz des lateinischen Grammatikers vollständig: Je nach der geistigen Fähigkeit des Lesers haben die Büchlein ihr Schicksal. In den Volksmund hat es nur die zweite Hälfte geschafft.

Hauptsache, es ist gesagt

Das Wort „fassungslos“ ist das letzte Asyl der Sprache, in das sich flüchtet, wem der Schrecken die Fähigkeit genommen hat, etwas in Worte zu fassen. Die Sprache begrenzt sich von innen.

Blick in den Abgrund

Nichts ist gefährlicher als ein Mensch, dem die Todesangst abhanden gekommen ist. Er kann mit dem spielen, was seinen Mitgenossen noch letzter Ernst ist. Er droht, aber lässt sich nicht mehr schrecken; er zwingt, aber lässt sich selber nicht nötigen. Der Ausnahmefall einer Zivilgesellschaft, die sich mit Gewalttätern auseinandersetzen muss, denen das Gespür für die eigene Endlichkeit abhanden gekommen ist, wird deutlich in der Drastik ihrer Wortwahl. Sie spricht von Rache und Vernichtung und gebraucht das verächtliche Vokabular des Gegners, um dem Übermaß an Grausamkeit mit einem deutlichen Abscheu unmittelbar zu entsprechen. Nietzsche hat die zweite Gefährdung formuliert, die mit solcher Brutalität einhergeht: „Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“*

*Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, § 146 

5. Sonntagskolumne: Anerkennung

… Vielleicht können wir Menschen uns nur erkennen, wenn wir einander auch anerkennen …

Aus den Tagesrationen. Ein Alphabet des Lebens. Das Buch erscheint in diesem Herbst.

Grünzeug

Hier wächst der Ruhm: Denkmal für die Frankfurter Grüne Soße

Hier wächst der Ruhm: Denkmal für die Frankfurter Grüne Soße

Lang schon hält sich die Legende, das Frankfurter Regionalgericht, die berühmte „Grie Soß“, sei eine Erfindung von Goethes Mutter. Da haben sich zwei lokale Größen zusammengetan, um einen Mythos zu begründen, obwohl sie beide es nicht nötig gehabt hätten. Frau Aja, eigentlich Catharina Elisabeth Textor, kochte offensichtlich gut und ihr Sohn aß gern, will man seinen zahlreichen Auslassungen zur Kulinarik glauben. Doch die Grüne Soße, eine aus sieben Kräutern zubereitete Kartoffelbeigabe, erwähnt er in seinen Schriften nie. Wäre sie wirklich seine Leibspeise gewesen, wie es in der Stadt hartnäckig behauptet wird, hätte sie gewiss Eingang gefunden in seine weltläufigen Texte. Die Kenner haben dem Kräutergemisch aus Borretsch, Kerbel, Kresse, Petersilie, Pimpinelle, Sauerampfer und Schnittlauch längst eine unabhängige Geschichte geschrieben, nicht mehr begründet auf dem geliehenen Ruhm des Dichterfürsten. Wohl erst nach Goethes Tod, in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, kam das Rezept auf. Seither gehört es mindestens im Frühling auf den Frankfurter Mittagstisch wie anderorts der Spargel. Und nach dem ersten Herbstfrost, wenn die Saison geendet hat, sorgt ein Denkmal in den Oberräder Feldern, wo die Kräuter wachsen, dafür, dass man sich auch an den dunklen Tagen an das frische Aroma erinnert. Es ist klug gewählt, weil es zugleich zeigt, wozu die Sprache fähig ist. In einem Gewächshaus steht auf dem Boden nichts anderes als der Begriff des Krauts, das einen Teil der Soße ausmacht. Das ist präzise die Leistung eines Wort: dass es gegenwärtig machen kann, was gerade nicht anschaulich ist. Das Denkmal für die Frankfurter Grüne Soße ist zugleich ein Denkmal für das, was das Denken mehr als einmal zu verstehen gibt.

Staatskunst

Eine einfache Regel gelungener Sozialpolitik könnte lauten: Verhindere die Armut, ohne den Reichtum zu hemmen. Der leicht utopische Charakter solcher Vorstellungen verschwindet, sobald die Regierungsaktivität sich nicht mehr nur auf die statische und zuletzt phantasielose Technik der Umverteilung verlässt, die den einen gibt, was sie den anderen genommen hat, nicht ohne zuvor noch eine saftige Gebühr für den Verwaltungsakt abzuziehen. Und ein Talent wiederentdeckt, das einmal zu den großen Begabungen des Politikers gehörte: strategisch zu denken und zu handeln. Wie viele Mietpreisbremsen, Energiewenden oder Vorstöße wider die kalte Progression braucht es, damit wir erkennen, dass in einer komplexen Welt schlichte Eingriffe allenfalls zeigen, dass zwischen selbst wohlmeinenden Absichten und den erhofften Folgen keine lineare Verbindung vorherrscht? Die Politikerverdrossenheit, die eine Politikverdrossenheit des Volks auf der Kabinettsebene – man möchte fast sagen: repräsentativ – widerspiegelt, rührt auch aus dem Gefühl der Überforderung und Ohnmacht gegenüber einer Wirklichkeit, die sich so gar nicht mehr mechanisch verhalten will und derart verwaltet werden kann.

Ohne einander

Allein ist, wer ohne andere lebt. Einsam ist, wer auf die anderen verzichten muss und es mit sich selbst nicht aushält.

Suspense

Üblicherweise lese er anderes, erwidert er, als er vom Sitznachbarn auf den Krimi angesprochen wird, den er seit dem Beginn der Zugfahrt in den Händen hält. Die Erläuterung gerät fast zur Entschuldigung dafür, dass er seine Zeit mit schlichter Unterhaltung verbringe. Nur wenig später scheint sich seine Haltung zu den Freuden der leichten Muse vollends bestätigt zu sehen: Von einer offenkundig spannenden Szene abgelenkt, versäumt er es, an der richtigen Station auszusteigen.