Monat: Oktober 2019

Gnade

Das Hauptwort der Reformation, deren Gedenktag wir heute begehen, Gnade, hat in einer quantifizierten Leistungsgesellschaft eher den Beiklang einer Demütigung denn einer Befreiung. Wo Gnade vor Recht ergeht, spielt einer seine mächtige Überlegenheit aus, die ihn veranlasst, ein Zeichen seines Könnens zu demonstrieren, weil ein anderer nichts mehr, nicht einmal für sich, tun kann. Aussichtslosigkeit ist der Gegenbegriff zu Gnade, nicht Recht. Das hat Paulus, auf den Luther sich beruft, gemeint, als er im Römerbrief konstatiert, keiner könne sich entschuldigen (Röm 3, 9ff.) Das ist der wesentliche, zugleich der problematische Punkt: Vor die Gnade ist zwar nicht das Recht gesetzt, aber das Eingeständnis, dass es Verhältnisse gibt, in denen nicht gilt, was sonst überall gilt: wer wir sind und was wir können. Und dass das gut so ist, weil nur so eine neue Perspektive sich erschließt.

Verfahren

Politik unterscheidet sich von alltäglichen Handlungsformen darin, dass Probleme in ihr nur als Verfahrensfrage bearbeitet werden. Was so zu kurz kommt: dass es Fragen gibt, die nichts anderes wollen, als dass man sie aushält; dass dem Denken vor dem Handeln ein rechtfertigungsfreier Vorrang eingeräumt wird; dass Aufgaben nicht über die Ergebnisse bewertet werden, sondern wertgeschätzt sind ob der Größe ihrer Zumutung, so dass man sich ihrer nicht entledigt, wenn man sie nicht erledigen kann.

Lob der Anarchie

Gefangen in einem engmaschigen Netz aus Regeln und Vorschriften verstoßen wir überall dort gegen die Verordnungen, wo sich spontan und voller Enthusiasmus Leben ausbilden will. Hier eine Idee, die von Baurichtlinien blockiert wird, dort ein Geschäftsvorhaben, das durch Finanzgesetze teuer zu Fall gebracht wird – die Bürokratie arbeitet an der Perfektion, das Mögliche unmöglich zu machen. Aus Angst, dass sein könnte, die Verfügungen nicht genau beachtet zu haben, verzichten wir darauf, Spielräume zu ermitteln. Nichts geht mehr, weil niemand sich zu bewegen wagt. Verwaltungen organisieren ihre Macht über die Angst vor Direktiven, die sich selber widersprechen und in diesem geduldeten, ja gewünschten Widerspruch sich unangreifbar machen. Wo die Logik als letztes Kriterium nicht gilt, kapituliert der kommunikative Kampf. Der Denkmalschutz verbeißt sich im Brandschutz, der Bürgerschutz verliert sich im Datenschutz. Wer immer schon mit einem Bein im Gefängnis steht, kann das andere nicht als Spielbein einsetzen. Es gibt eine einfache Antwort auf die Frage, was hier hilft: dass Mut belohnt und nicht bestraft wird, dass Anarchie gelobt und nicht getadelt wird, dass Wagnis gefördert und nicht beschränkt wird, dass die Folgen bedacht, aber nicht die Bedenken verfolgt werden, dass zwischen Sinn und Unsinn von Normen geltungsscharf unterschieden wird. Das politische Ressentiment hat keine Chance mehr, sobald die Freiheit des Geistes und der Geist der Befreiung wieder uneingeschränkte Wertschätzung erfahren.

Denk dir deinen Teil

Das Schweigen als ghosting und erklärungsfreie Form des Verschwindens ist zu einer der populärsten Kommunikationsarten geworden. Nichts einfacher, als nicht mehr zu antworten, wenn der Gesprächsfluss das nahelegt, ja verlangt. Spiegelbildlich zu dem weithin verbreiteten Phänomen leichter persönlicher Angegriffenheit, obwohl nichts als die Sache angegangen war, gibt es jene Distanzlosigkeit wieder, die auch sonst Fremde ins kumpelhafte Du fallen lässt oder Feundschaften begründet, die wenig mehr hält als wechselseitige Gefälligkeiten. Auch das radikale Kappen einer Beziehung zeugt von Respektlosigkeit gegenüber dem, was war. Warum die Ablehnung in verquaste und umständliche Rechtfertigungen quetschen, wenn die Umstände für sich selber sprechen können. Wer einfach sich nicht mehr meldet, hat kein Interesse. Nur dass er, der sich mit den Kleinigkeiten eines Abschieds nicht aufhalten will, den anderen aufhält, der sich unausgesetzt fragt, was geschehen ist. Sich seinen Teil denken zu müssen, überfordert, weil das Ganze in Frage gestellt ist.

Zweifellos

Was den Zweifel vor einer Entscheidung vom Zweifel nach der Entscheidung unterscheidet: dass sich jener leicht zur Verzweiflung auswächst, nicht voranzukommen, wohingegen die Verzweiflung über den Entschluss meist von dem Gefühl der Erleichterung überdeckt wird, überhaupt eine Wahl, wenn auch die falsche, getroffen zu haben. Man muss nur lang genug warten, dann wird jede Entscheidung zum Akt der Befreiung von quälender Ungewissheit, und es hängt alles daran, dass sie gefällt wurde, nicht, was mit ihr erreicht worden ist.

Das unendliche Gespräch

Ein Gespräch, das mehr auf sich hält, als die Gelegenheit zu sein zur Unterhaltung, arbeitet gegen die Tendenz jedes Satzes an, endgültig den Punkt zu setzen. Mittel genug zur Fortsetzung findet es in der Bedeutungsvielfalt von Wörtern. Das Gespräch hält sich in Bewegung, weil es nicht will, nur das erreicht zu haben, was es jeweils gerade erreicht hat. Auch wenn sie nicht ausgesprochen wird, begleitet die Frage: Verstehst du, was ich meine? alle Äußerungen. Und die kann immer darauf rechnen, dass keine der möglichen Antworten ein für allemal zutrifft.

Kooperation

Schlicht Einkaufen ist altmodisch. Die meisten neueren Geschäftsmodelle kassieren nicht nur für die Ware ab, sondern kassieren auch gleich den Kunden ein und nutzen ihn als Mitarbeiter, der Arbeiten erledigt, die ehedem als Dienstleistung galten. Das begann, als das Frühstücksbüffet im Hotel eingeführt und das Essen nicht mehr am Tisch serviert wurde, als das Möbelhaus Schrank oder Bett in Einzelteilen verpackt offerierte, und findet seine Fortsetzung in Shops, in denen nur noch der Rohstoff angeboten wird, der Backteig, der vor Ort zum Croissant zubereitet werden muss, oder das leere Buch, in das der Leser erst hineinzuschreiben hat, was er später liest. Wie das Einkaufserlebnis war, wird man gelegentlich gefragt. Offen gestanden, es ist zur harten Arbeit geworden.

Selbstzerstörung

Der Narzisst ist kein schlechter Verlierer. Er verliert überhaupt nicht, so sein Selbstverständnis, und kennt die Niederlage daher nur als Schwäche der anderen. Bevor er seinen Verlust eingestehen würde, zerstörte er sich mangels fremder Objekte lieber selbst und feierte das vorauseilend als seinen letzten Triumph. Größer als das vernichtete Ich war seiner Ansicht ohnehin nichts auf der Welt, das, besiegt, noch als Zeuge seiner übermäßigen Stärke paradox wirkt.

Warum eigentlich nicht?

In Schwellenzeiten, in denen alte politische Ordnungen überkommen sind, revolutionäre Techniken andeuten, dass sie die Lebenswelt tiefgreifend ändern, Themen aufbrechen, von denen wir noch nicht wissen, ob wir ihnen gewachsen sein werden, in solchen Übergangsphasen der Geschichte erhält die leichthin auffordernde Frage: Warum nicht? eine zwiefältige Bewertung. Sie, die von der Begründungslast für das Handeln befreien soll und dieses ohne Rechtfertigungsnot in Bewegung bringen will, kann so Neuerungen rasch anstoßen, ohne dass gleich deren Zweck benannt werden muss. Aber sie hat sich auch verstärkt zu fürchten vor den Folgen ihres heiteren Leichtsinns. Manchmal muss man um des Wandels willen verzichten auf tiefe Gründe für das eigene Tun; gelegentlich ist diese Preisgabe des Verstands der Anfang von fatalen Entwicklungen, deren Unwiderruflichkeit das Ganze gefährden. Schwellenzeiten sind gekennzeichnet dadurch, dass das Maß der Verantwortung den Grad der Freiheit bestimmt, und nicht umgekehrt.

Was Gesellschaften stabil hält

Jede Gesellschaft lebt von Fiktionen wie der Freiheit oder der Gleichheit aller Bürger. Sie ist stabil in dem Maße, wie diese idealen Annahmen nicht in Frage gestellt werden. Es ist eine der wichtigsten Aufgaben politischer Parteien, Entscheidungen zu treffen und soziale Zustände zu fördern, die den Zweifel an den unbestrittenen Voraussetzungen des Zusammenlebens gar nicht erst aufkommen lassen.

Kleines Wort, große Wirkung

Mit den beiden kleinen Worten, Ja und Nein, geht die größte Wirkung einher. Sobald sie nicht als Antwort gesprochen werden auf ein schlichtes Ansinnen, sondern als Zuspruch verstanden sind oder als Signal der Abwendung, bestimmen sie das Selbstverständnis von Menschen. Man kann sehen und spüren, ob einer zu sich selbst und anderen Ja gesagt hat, so entschlossen, dass darin jeder Anflug von Selbstzweifel und jeder Ansatz zur Selbstzerstörung versöhnlich aufgehoben ist.

Eine Illusion ohne Zukunft

In nicht wenigen Kirchen finden sich sonntags ein paar Fromme ein, die jedes Mal vergeblich von ihrem Pastor erwarten, er möge ihnen mehr bieten, als ihr Vertrauen zu stärken auf etwas, von dem wenigstens er glaubt, dass es nicht existiert, ohne dass er auch sagen könnte, was er wirklich denkt. Es würde nicht wundern, kämen die rechtschaffenen Besucher nur noch, um vor Ort für seine sonst verlorene Seele zu beten, was sie nicht sagen, auch wenn sie es denken.

Abschalten

Die Funktion der Autorität, so heißt es, sei, eine Sache zu beglaubigen. Wo das Logo einer bekannten Marke, der Name eines verdienten Autors, der Stempel einer anerkannten Institution drübersteht, erübrigt sich der kritische Blick: Es verdient, so der implizite Anspruch, angenommen zu werden. Autorität, die in einer allenthalben unübersichtlichen Welt unverhofft wieder zu Rang gekommen ist, entlastet von dem ohnehin aussichtslosen Ansinnen, alles prüfen zu müssen. Das leisten zwar Verlage, die die unausgesetzte Textproduktion mit einer qualitativen Auswahl engmaschig filtern, oder Zeitungen, die die Nachrichtenflut eindämmen, auch nicht, aber sie geben ihnen Struktur. Nur dass sie so nicht zwangsläufig die Glaubwürdigkeit ins Recht setzen, sondern allenfalls dafür sorgen, dass scharfe Fragen und ernste Zweifel ausgeschaltet werden. Kritik, so nötig sie als belastbare Instanz des Vertrauens wäre, scheitert heute nicht an der Macht der anderen, sondern an ihrer Selbstüberforderung.

Vorsicht!

Die Vorsicht, die der Selbstgewissheit entspringt, unterscheidet sich von der anderen Vorsicht, die aus der Selbstunsicherheit kommt, im Umgang mit Grenzen. Weil jene weiß, wo der point of no return liegt, spielt sie mit dem Freiräumen des Lebens, die sich davor auftun. Wohingegen die Furcht, zu weit zu gehen, jede Bewegung schon im Ansatz erstarren lässt. Die schönsten Erfahrungen stellen sich ein, wenn Unabhängigkeit und Wachsamkeit ein festes Bündnis eingehen.

Gedankenfragmente

Der Unterschied zwischen einem Fragment und einem Argument besteht darin, dass jenes das Ziel der Wortfolge aus den Augen verloren hat. Wohingegen die beweisende Aussage stets den nächsten Satz und vor allem den stimmigen Schluss sucht. Das Argument ist der grammatikalische Widerstand gegen Partikularinteressen und verliert in Gesellschaften, in denen das Ich in den Vordergrund gerückt ist, an überzeugender Kraft. Nach zwingenden Gründen sucht nur, wem es um mehr geht als sich selbst.

Unwiderruflich

Nichts regt die Phantasie so an (und auf), wie die Fakten, die geschaffen wurden. Gerade am Unwiderruflichen stört sich das Selbstverständnis einer Vernunft, die ihr Selbstbewusstsein aus der Vorstellung zieht, es könnte alles auch ganz anders sein und es sei daher unmöglich zu dulden, dass es unumkehrbar ist. Das Denken wird in dem Moment zum Handlungsersatz degradiert, was weder dem Denken noch dem Handeln schmeichelt. Was das über die Phantasie sagt? Sie wirkt zuverlässig als Therapeutikum wider die Demütigungen, die das Denken durch das Handeln erleiden muss.

Variationen über Verantwortung

Eine kurze Definition von Freiheit: Sie ist das Vermögen, Hindernisse überwinden zu können. Der größte Widerstand, der Menschen entgegensteht, kommt nicht von der Natur der Natur, sondern entwickelt sich in der Welt des Willens. Dass ein Anderer ist: fremd, eigensinnig, souverän, unabhängig, anspruchsvoll, diese verstörende Erfahrung, dass Unterschiede sich ausleben lassen* und Uneinigkeit beharrlich gepflegt werden kann, mag der Moment gewesen, an dem erstmals der Gedanke aufkam, Menschen könnten frei sein. Und mit ihm die Aufgabe formuliert ist: die Verantwortung zu übernehmen, ein Zusammenleben jederzeit möglich sein zu lassen.

* Siehe Paul Valéry, Fluktuationen über Freiheit, Werke 7, 295

Der Tag, an dem sie Schluss machte

Aus dem noch ungeschriebenen Roman

Am Tag, an dem sie mit ihm Schluss gemacht hatte, waren die Fernsehnachrichten genau eine halbe Minute zu kurz. Zwanzig Uhr vierzehn und dreißig Sekunden zeigte seine Uhr, als die Sprecherin sich verabschiedete. Sie wünschte noch einen schönen Abend, doch er hörte in seiner Trance nur: Leb wohl. Der Wunsch, der kein Wunsch ist, diese zwei letzten, hingeschmetterten Wörter, dröhnten ihm seit ein paar Stunden im Kopf. Von den Tagesereignissen, die auf dem Bildschirm gezeigt wurden, hatte er nichts mitbekommen. Nur dass die Sendung zu früh aufhörte. Zu früh, wie ihr Weiterlesen

Jung geblieben

Die Alltagsrede kennt den anerkennenden Ausdruck „jung geblieben“ für Ältere, die sich gut gehalten haben. Es ist eine falsche Wendung, falsch nicht nur als nichtige Schmeichelei, sondern vor allem wegen der Vorstellung, es ließe sich aufhalten, was von Beginn an dem Ende zustrebt. Nichts ist jung, weil es geblieben ist. Je älter einer wird, desto schärfer zeichnet sich vielmehr ab, worin das Junge besteht: in der Fähigkeit und Kraft, Perspektiven zu entwickeln.

Der Spieler

Die erste und einfachste Regel beim Spiel, das auf den Sieg zielt, lautet: Mach die Unberechenbarkeit zum Kalkül. Und rechne mit den Launen der anderen.

Ohne Verlustangst

Warum ist der so gefährlich, der nichts zu verlieren hat? Er kann voll ins Risiko gehen.

Die Zähne ausbeißen

Am Geheimnis beißt sich die Neugier die Zähne aus. Was sich nur selber erschließt, lässt sich nicht entschlüsseln.

Verlauf

Gespräche über das Ende sollten nur im Gehen stattfinden. In der Bewegung verliert das Ende seine Gültigkeit.

Die zwei Seiten des Schönen

Dass das Schöne bedrohlich sein kann und das Bedrohliche schön, ist nirgendwo so anschaulich wie beim Wetter.