Monat: Oktober 2020

Schwarz-Weiß

In jeder Borniertheit, Einseitigkeit, Engstirnigkeit und Ignoranz hat sich der Wunsch festgeschrieben, es möge diese mit sich selbst überlastete und von sich selbst überforderte Welt wieder Orte offerieren können, an denen die Zugehörigkeit mit Selbstverständlichkeiten belohnt wird. Man unterschätze nicht das Orientierungsbedürfnis, das sich in gesellschaftlicher Spaltung, ja Unversöhntheit befremdlich und entfremdet ausdrückt.

Überlegene Demokratie

Der heimliche Wettbewerb zwischen Diktatur und Demokratie, in dem sich entscheidet, in welcher Staatsform das weltumspannende Virus besser bekämpft wird, spiegelt sich wider in der Frage, ob der schnelle Entschluss eines autoritären Machtapparats sowie die harte Kontrolle und Überwachung seiner konsequenten Einhaltung wirksamer sei oder parlamentarische Debatten, die zu Kompromissen zwingen. Die Seuche reagiert freilich nur auf radikale Eingriffe. Am Ende, das bezeugt Erfahrung, widersteht der Ansteckungsgefahr der erfolgreich, der sich kaum Ausnahmen erlaubt. Da differenziert der Krankheitskeim nicht zwischen politischen Überzeugungen und Organisationsformen. Dennoch macht es einen grundlegenden Unterschied, ob der Rigorismus im Handeln verordnet ist oder das Individuum ihn sich selbst zuzuschreiben vermag (und sei es über den Umweg einer Repräsentanz in der Abgeordnetenkammer). Es gilt nicht nur, was die Bundeskanzlerin in ihrer Regierungserklärung gestern proklamierte: „Freiheit heißt Verantwortung“. Sondern vor allem das Umgekehrte: der Name für den Willen, sich Handlungen selber anzurechnen, ist „Freiheit“.

Kulturkampf

Es ist eine absolut reduzierte Vorstellung, die der staatliche Eingriff, ja Angriff auf die Kultur erzwingt von dem, was einst stolz und gelegentlich verharmlosend Kulturkampf hieß. Fortan kämpft die Kultur – nur noch um sich selbst. Jedes Ringen um Wahrheit oder zwischen Wertbegriffen, das in dem Maße leidenschaftlich geschieht, wie es ein Gemeinsames anerkennt, und es sei es allein das Recht des Denkens, sinnvoll zu entscheiden, setzt Kultur voraus. Sie ist eben nicht, was sich nur in Branchen erschließt, wie es die Politik fördert, wieder nur geleitet von einer Vorstellung der Funktionen, dessen, was Kultur leistet und beiträgt zur Aufrechterhaltung eines Systems (Theater, Galerie, Konzerthaus, Gastronomie, Sport). Sondern sie ist über all das hinaus, was in diesen Institutionen gestiftet und zur Selbstbildung offeriert wird, der unfassliche Ort des Selbstverständlichen, der Gemeinsinn, Teilhabe, Rücksichtnahme, Gespür und Geschmack, letztlich all jene schönsten Eigenschaften prägt, die für Krisenzeiten und deren Überwindung wesentlich sind. Kultur ist nicht notwendig; sie ist mehr als notwendig. Sie ist nicht relevant; sie ist essentiell. Sie funktioniert nicht, sondern ermöglicht, dass eine Gemeinschaft, auch eine Wirtschaft, stabil funktionieren kann. Ob das jene ernsthaft verstehen, die sie stets dann zuallererst in den Blick nehmen, wenn es ums Sparen, Verzichten und Einschränken geht, und zuallerletzt, wenn Erhaltung und Förderung nottut (was nicht allein und nicht vornehmlich finanzielle Aspekte behandeln muss)? Es mag sich rächen, dass Kultur stets eine problematische Beziehung zur Macht entwickelt hat, die sie oft verdächtigt, sich allzu sehr mit der Dummheit verbündet zu haben. Und dass sie fürchtet, von dieser korrumpiert zu werden, sobald sie sich in die Organisation von Führung begibt.

Mehr sprechen, weniger reden

Über den Zusammenhang zwischen Reden und Sprechen*:
1. Sprechen ist die Fähigkeit, so zu reden, dass Worte Gemeinschaft stiften.
2. Vor die Gemeinschaft ist das Hören gesetzt, das zunächst nichts anderes meint, als anzuerkennen, dass ein anderer etwas zu sagen hat.
3. Die Anerkenntnis lässt sich nicht erzwingen, sondern entsteht in der zirkulären Bewegung, die jede Rede vollzieht, die um sie wirbt und sie deswegen schon voraussetzen muss, weil sonst das Bemühen um Beachtung sinnlos wäre.
4. Jemand der gut spricht, schafft es in seiner Rede, die Anwesenden nicht nur fürs Zuhören zu gewinnen, sondern die Zuhörer zu Anwesenden zu machen. Was das bedeutet: Wer die Worte vernimmt, versteht, dass sie mehr bewirken als den Verweis auf das, was sie bezeichnen. Sie vermitteln Sinn und lassen entdecken, dass dieser Sinn nicht vereinzelt. (Einsamkeit ist die Erfahrung, dass dieser Sinn fehlt.)
5. Es wird mehr geredet als gesprochen. Es wird zu viel geredet und zu wenig gesprochen. Je mehr geredet wird, desto weniger wird gesprochen.
6. Das Reden beharrt auf Positionen. Das Sprechen öffnet Perspektiven.
7. Sprechen ist die einzige Möglichkeit, gemeinsames Handeln frei zu gestalten.

* Martin Heidegger hat in „Sein und Zeit“ in den §§ 34 ff. über das Verhältnis von Sprache und Rede gehandelt und in ihm das „Gerede“ verortet, das als alltägliches die Selbstauslegung des Daseins verschließt (S. 169). 

Mit der Zukunft handeln

In jeder Zukunftsprognose, die aus der konsequenten Verlängerung der Vergangenheit gewonnen wird, steckt ein gehöriges Maß an Glauben an die Kausalität, an Folgerichtigkeit und Vernunft, an Logik und Gesetzmäßigkeit. Meist mehr, als es der Inhalt dessen, was da vorausgesagt wird, vermuten lässt.

Disziplin

Wenn Freiheit der Name dafür ist, dass wir verantwortlich genannt zu werden verdienen, dann ist Disziplin der Ausdruck davon, dass diese Verantwortung auch gegenüber sich selbst gelebt werden will.

Bauernregel

Es ist wenig los in diesen Zeiten der Ansteckungsgefahr auf dem Zentrumsplatz. Der Wochenmarkt, der zuverlässig die Gemüseernte von den Feldern in die Stadt bringt, kaum besucht, lädt ein zum Schlendern und Verweilen. Da bleibt Zeit für ein Gespräch mit der Bäuerin am Stand. „Wenn das so weitergeht“, sagt sie mit Blick auf eine kleine Gruppe Maskenverweigerer, „ist unsere Gesellschaft so gespalten, dass wir am Ende alle in die tiefen Gräben fallen, die sich zwischen uns aufgetan haben.“ „Aber dann wären wir alle wieder vereint“, erwidert der Flaneur listig. „Eben, weil wir alle verlieren werden“, kommt die Antwort prompt. Drei Sätze, und die Weltgeschichte erscheint, wenn auch düster, wieder geordnet.

Nichts tun

Der Unterschied zwischen einem Faulpelz und einem Intellektuellen ist so groß nicht, nur dass dieser einmal erfahren hat, wie reich die Produktivität ist, die im Nichtstun steckt. Seither weiß er, dass jenseits der alltäglichen Nützlichkeit sich ein Raum weit aufspannt, in dem vieles als „nutzlos“ erkannt wird und so manches dennoch mehr als nützlich zu sein scheint.

Liebe, die durch den Magen geht

Liebe, die durch den Magen geht, kann auch auf ihn schlagen.

Pandemie

Was das welterfassende Virus vor Augen führt: dass unser Handeln kleinteilig, selbstbezogen, lokal und, obwohl notwendig, nicht global angelegt ist. Der Größe des Ereignisses folgt die Fähigkeit nicht (kann ihr nicht folgen?), entsprechend koordiniert und weiträumig zu reagieren. „Die Welt“, das ist abstrakt, mehr denn je in einer Zeit, die sich auf sich selbst als ein Ganzes besinnen müsste, obwohl sie meint, als total vernetzte, das erledigt zu haben. Jedem müsste klar sein, dass ein gut zweiwöchiger, vollständiger Lockdown – so undenkbar und unwahrscheinlich das ist – den Erreger der Seuche ein für allemal vernichtete, das Problem löste. Es wäre wohl um vieles günstiger in den wirtschaftlichen Folgen. Und dennoch meinen wir erfolgreicher zu sein mit regional und national angelegten Strategien, in Wahrheit: weil wir es anders nicht können. Vielleicht lehrt die Seuche, was Globalisierung bedeutet, wenn sie von allen dasselbe verlangt; vielleicht zeigt sie aber auch nur drastisch, wie sehr uns „die Welt“ überfordert: dass unsere Gedanken so hochfliegend sind, wie unsere Taten fragmentiert.

Auf ein Wort

Wenn der Vorgesetzte um eine ehrliche Rückmeldung bittet, ist das die Situation, in der es keinen Gewinner gibt. Entweder heuchelt man Lob, Anerkennung und Begeisterung, was der Sache nicht dient, aber die heimliche Verachtung des Chefs gegenüber seinem Angestellten nur bestärkt, oder man greift zum klaren Wort, was die Karriere schon deswegen nicht fördert, weil der Leiter aus eigener Anschauung weiß, dass Direktheit und Deutlichkeit nicht jene Tugenden sind, die nach oben tragen.

Der erste Hauptsatz der Rhetorik

Die wichtigste Grundregel beim Sprechen: Finde ein Ende, am besten bevor du anfängst.

Die Kapelle spielt zum Untergang

Es ist die Schwäche der Kunst, zu sich selbst kein so freies Verhältnis zu haben, dass sie auf sich verzichten könnte: Sie muss sich ausdrücken. So viel zumindest scheint die Politik von ihr zu verstehen und zieht daraus die kalte Konsequenz. Weil sie weiß, dass selbst zum Untergang des Ozeandampfers die Kapelle noch trotzig aufspielt, erklärt sie vieles für rettungswürdig aus wirtschaftlicher Not, nur nicht die Kultur. Und verlässt sich zynisch auf deren Überlebenstalent, das zwar Hilfe wenig zu geben vermag, auch wenn es Hilfe dringend braucht, aber eines beherrscht, das nur wenige meistern: Kunst kann trösten.

Gesprächsstil

Die spannendsten Interviews entwickeln sich als harter Wettbewerb zwischen Frage und Antwort. Da versucht der eine, mit seinen Formulierungen sich so zu erkundigen, dass die Erwiderung nur das Beste, Schönste, Überraschendste hervorruft, weit jenseits gestanzter Phrasen. Und das Niveau der Entgegnung wiederum zwingt den Frager, sich Ungehörtes zu überlegen, in Gedankenfelder und Lebensräume vorzustoßen, die nur selten, allenfalls im entgrenzten Selbstgespräch, bisher betreten, geschweige denn erschlossen wurden. Nirgendwo führt die Lust an der Überbietung zu so sinnvollen Ergebnissen wie im Konkurrenzspiel um die originellste Rede und Widerrede.

Zufällig verpasst

Zum Wesen einer großen Stadt gehört die Zufallsbegegnung. Wo unwahrscheinlich ist, dass man einander ohne Verabredung trifft, wenn eine Million Menschen am selben Ort wohnen, arbeiten, sich bewegen, sorgt die Irritation, dass es dennoch geschieht, meist für erfreuliche Ablenkung. Städte faszinieren, weil sie das Leben unberechenbarer machen. Nun, da in Fußgängerzonen und auf Plätzen mit der Maske das halbe Gesicht zu bedecken ist, fallen viele dieser beglückenden Überraschungen aus. Das ist ein Nebeneffekt des Infektionsschutzes, nicht beabsichtigt, aber willkommen im konsequenten Kontaktvermeidungsverfahren: Man verpasst sich zufällig. Nicht nur dass es schwerer ist, an spezifischen Merkmalen den Bekannten zu identifizieren – plötzlich übernimmt der unverwechselbare Gang die Aufgabe für die verborgene Mundpartie. Der eigene Blick, und das ist befremdlich, richtet sich auch stärker nach innen, wenn das Antlitz hinter einem Stoffpartikel fast verschwindet. Die Außenwelt rückt in größere Distanz. Das Interesse an ihr wird kleiner. Am Ende riskiert eine Gesellschaft mit dem Ausfall zentraler sinnlicher Wahrnehmungsangebote das, was sie in Zeiten der Ansteckungsgefahr gerade besonders braucht: die Freude an reichen, zahlreichen und vielfältigen, Beziehungen. Auch die Solidarität, vielbeschworen in diesen Tagen, wird abstrakter.

Spaltpilz

Eine Gesellschaft, eine politische Institution ist in dem Maße gespalten, wie sie mit ihren eigenen Unterschieden nicht versöhnlich umzugehen vermag. Das Reden von Einheit und Gleichheit ist verlogen, wenn es nicht zugleich akzeptiert, dass jeder stabilen Gemeinschaft die Verschiedenheit nicht nur vorausliegt, die am Ende zu überwinden sei, sondern dass sie das Grundprinzip eines lebendigen Miteinanders darstellt. Früher hat man diese Fähigkeit zur Versöhnung „Geist“ genannt.

Lieben und Leiden

Was Liebe meint, erschöpft sich für einige im Wunsch, lieber zu leiden, als unbeachtet sein zu wollen.

Für sich, für andere

Freiheit bedeutet für die meisten, für sich sein zu können, ohne den starken und beherrschenden Einfluss der anderen spüren zu müssen. Der Blick richtet sich auf das Eigene. Das ist keine hinreichende Vorstellung, aber auch keine falsche. Sie wird ergänzt zu einer vollständigen Bestimmung, wenn all das Unbehelligte, Entfaltungsbereite, Anfangsetzende sich nicht verrät, indem es seinerseits schlicht dominant zu werden versucht, sondern das Verhältnis zur Welt geformt sein lässt durch das souveräne Zusammenspiel von Gestaltungswille und Gesellschaftspflicht, Spontaneität und Rücksicht. Der Blick richtet sich auf das Fremde.

Mach keine Scherze

Je größer der Ernst der Lage, desto besser müssen die Scherze sein, mit denen man sich von ihm für einen Augenblick absetzt. Krisen sorgen für ein höheres Niveau im Humor, weil der Reiz zum Lachen handfeste Gründe braucht. Oder, wo sie fehlen, mit List und Intelligenz ausgelöst werden muss.

Nichts

Das eigene Ende vor Augen trumpft der Narzisst noch einmal auf und wird gefährlich. Weil er nicht akzeptieren kann, dass es Größeres gibt, und einsehen muss, dass er sich wird fügen müssen, treibt er die Realitätsverleugnung bis zur Selbstvernichtung. Worauf seine Gegner immer gehofft hatten: dass er sich als nichtig entlarvt, besorgt er selbst. Den Triumph, ihn besiegt zu haben, gönnt er ihnen nicht. Von ihm und dem, was er als sein Eigentum ansieht, soll, wenn ihm schon nicht mehr alles zugeschrieben werden und er nicht mehr alles erreichen kann, wenigstens eines noch übrig bleiben: Nichts. So, seine Hoffnung, ist noch keiner abgetreten. (s.a. „Die Niederlage des Narzissten“)

Wie wäre das Leben, wenn … ?

Wie wäre das Leben, wenn Kraft und Erfahrung nicht auseinanderstrebten, so dass früher die Kraft die Erfahrung übertrumpfte und später die Erfahrung jene Kraft ersetzen muss, die fehlt? Wie wäre das Leben, wenn die anfängliche Unbekümmertheit vom Maß der Einsicht immer begleitet würde, das sich erst einstellt mit den Jahren? Wie wäre es, wenn Abgeklärtheit mit der Spielfreude gleichermaßen zusammenfielen; wenn die Begeisterung sich hielte, obwohl die Enttäuschung zunimmt; wenn die Routine sich stets neu erfinden müsste, obwohl sich die Erlebnisse unaufhörlich zu stimmigen Geschichten anhäufen; wenn die Neugier wüchse mit der Erinnerung? Wie wäre es, wenn Lust keine Abschwächung kennte und die Liebe sich ihres Versprechens nicht einmal entsinnen müsste, unendlich zu sein; wenn die Vorfreude sich mit der Gewissheit paarte; wenn derselbe Satz im Mund eines Dreißigjährigen sich nicht anders anhörte, als von einem Alten gesprochen? Wie wäre das Leben, wenn es nichts lernen müsste und nichts vergäße? Kurz: unerträglich.

Ein Mann mit Grundsätzen

Auf einen Espresso in der Stadt

„Und wie?“ fragt der Freund, der zufällig den Weg gekreuzt hat.
„Was soll man sagen? Passt schon. Und was nicht passt, wird passend gemacht.“ Die Antwort mimt den unerschütterlichen Optimismus eines professionellen Pragmatikers.
„Ein Satz für alle Lebenslagen“, erwidert der Freund überrascht. „So kenne ich dich gar nicht. Mit einer blöden Phrase eine ernstgemeinte Erkundigung wegwischen. Du bist doch sonst eher der Prinzipienmensch. Also, wie geht es wirklich?“
„Eher ein Satz für alle Lebenslügen“, korrigiert der andere. „Wenn ich ehrlich bin: Nichts passt. Ist alles ein bisschen inkommod dieser Tage. Findest du nicht?“
„Stimmt.“
„Nicht einmal das passt, dass wir hier einfach sitzen wie früher. Und einen Espresso nehmen, als sei nichts.“ Der andere steht unvermittelt auf und verabschiedet sich.
„So gefällst du mir schon besser. Ein Mann mit Grundsätzen“, bemerkt der Freund. Aber da ist der andere schon weitergezogen.

Irgendwas, irgendwie

Der elende Trick der Sprache, für das Besondere (den allein individuell erlebbaren Schmerz, das Hochgefühl, für das es kein Vorbild zu geben scheint, die Lüge, die nur dem Lügner bekannt ist, die Verschwörungstheorie, die sich aus geheimen Einsichten speist) nur Allgemeines zur Verfügung zu stellen (Begriffe und andere Wörter, die den Anspruch erheben, von allen verstanden werden zu können), diese Beschränkung hat einen heilsamen Effekt. Sie sorgt dafür, dass Verrücktheit, trotz zwischenzeitlicher Popularität, am Ende vereinsamen lässt. In Schleiermachers Dialektik ist die Einheit als Hauptaufgabe von Sprache und Vernunft herausgestellt, die nie nur eine logische Form darstellt, sondern auf den Zusammenhalt derer zielt, die sich ihr als Ausdrucksmedium anvertrauen und sie als Handlungskriterium anerkennen. „Die Irrationalität der einzelnen kann nur ausgeglichen werden durch die Einheit der Sprache, und die Irrationalität der Sprache durch die Einheit der Vernunft.“* Erfahrung lehrt, dass Gespräche, Diskussionen, Debatten für jeden gefährlich sind, der sich auf „Wahrheiten“ beruft, die er exklusiv zu haben meint.**

* § 303. Der Herausgeber der „Dialektik“ bemerkt, dass der Autor im Manuskript statt „Irrationalität“ zunächst von „Relativität“ spricht und dieses Wort auch nicht durchgestrichen hat.
** Man mag daran denken, was Joe Biden vor der ersten Fernsehdebatte mit seinem Kontrahenten geantwortet hat auf die Frage, wie er dem Präsidenten Paroli bieten wolle: mit „truth“. Wahrheit zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie um regelkonforme Zustimmung wirbt und nicht nach Ausschließlichkeit strebt. 

Bleib mir fern

Aus gegebenem Anlass, da die Zahlen wieder steigen: Der gebotene Abstand, der Infektionen zu vermeiden helfen soll, der in der AHA-Regel* ein prominentes Akronym bestückt und dessen Missachtung allenthalben zur öffentlichen Klage Anlass gibt, diese Distanz ist nur die eine Seite des Problems. Schwer auszuhalten ist gelegentlich auch die dominante Nähe zu Hause, die Unfähigkeit, denen aus dem Weg zu gehen, mit denen man ein Leben zu teilen sonst gewillt ist, im home office, nicht zuletzt in Ermangelung von Terminen außer Haus, wegen geschlossener Restaurants, gestrichener Flüge, abgesagter Reisen, reduzierter Theatervorstellungen. Da reichen anderthalb Meter nicht. Hier gibt es zu wenig Abstand, dort zu viel. Das ist die eigentliche Schwierigkeit: dass die Wahlmöglichkeit abhanden gekommen ist.

* Abstand, Hygiene, Alltagsmaske