Tag: 11. April 2021

Der pandemische Imperativ

Als Immanuel Kant den kategorischen Imperativ in fünf unterschiedlichen Formeln vorstellte, meinte er, die Lösung gefunden zu haben für das Problem, eine handlungsleitende Verbindlichkeit in der Art logischer Klarheit ausdrücken zu können: formal, eindeutig, allgemein, nicht zuletzt als Darstellung von Freiheit. Selten ist die Frage: Was soll(en) ich (wir) tun? gesellschaftlich so präsent gewesen wie in Zeiten der Ansteckungsgefahr. Daher der Versuch, diesem Imperativ eine neuerliche Fassung zu geben, die den allzu lang währenden politischen „Eiertanz“ um Grenzwerte, die nicht überschritten werden dürfen, um Öffnung oder Schließung des Einzelhandels oder der Theater, um länderspezifische Ausnahmen beendet. Er könnte lauten: HANDLE SO, DASS DIE MAXIME DEINES WILLENS JEDERZEIT ZUGLEICH ALS PRINZIP EINER ALLGEMEINEN FREIHEIT GELTEN KÖNNE. Das schließt die einseitige Fixierung auf Inzidenz- und R-Werte aus. Aber es radikalisiert das Bemühen, eine stabil offene Gesellschaft zu erlauben, in der die Erkrankung nicht nur als Bedrohung der Freiheit der (noch) Gesunden (der Wirtschaft, der Kultur, der Bildung …) angesehen wird, sondern als Gefährdung aller, die schon aus diesem Grund gemeinschaftlich sich anstrengen, ein freies Agieren künftig möglich sein zu lassen. Was das voraussetzt: Freiheit als einen anderen Namen zu verstehen für Verantwortung, die wiederum als Ausdruck für die kommunikative Vernunft aller. Was das zur Folge hat: die Zahl der Infektionen so gering zu halten, dass sie den Handlungsspielraum groß hält. Der Satz zum nächsten harten Lockdown müsste lauten: Lasst uns befreien. Und dieser sollte so konsequent sein und immer so lang anhalten, bis die Zahl der Ansteckungen vernachlässigbar sind. Im Grunde ist das einfach (und entspricht der No-Covid-Strategie vieler wohlmeinender Wissenschaftler). Die Schwierigkeiten machen wir, die wir glauben, uns leisten zu können, unvernünftig zu sein.