Tag: 6. September 2022

Woke

Das Bewusstsein für Komplexität in einer Gesellschaft, die sich als wach genug erweist, die feinen Unterschiede nicht nur zu erkennen, sondern auch zu pflegen (im Gendern, den Alltagsformen des versteckten Rassismus, im Schutz von politischer Korrektheit und sozialer Gerechtigkeit), dieses aufmerksame Wissen um Vielfalt zeigt sich erstaunlich einfältig, wenn es sich auseinandersetzen muss mit Einwänden, die selber Komplexität einfordern. Da verliert nicht zuletzt ein eher schlichter Unterschied, die Differenz zwischen Empfindsamkeit, die den Reichtum kultureller Spielarten schätzt, und Empfindlichkeit, die ihn weniger erträgt und das Leben reduziert, seine Bedeutung. Und höchst reizbar, also gar nicht empfindsam, aber empfindlich, fallen die Reaktionen aus, wenn Kritik aufkommt, etwa dass individuelle Verletzbarkeit kein absolutes Kriterium sein kann für den Gebrauch der Sprache (weil sonst am Ende über nichts mehr ohne Furcht geredet werden kann; jedes Wort kann potentiell tief schmerzen) oder die Grammatik für das Partizip Präsens anderes vorsieht als eine geschlechtsneutrale Bezeichnung (der Bäcker ist eben kein Backender in Momenten, da er nicht backt). Am Ende wird Komplexität ohne Not einkassiert und durch den Killergestus sich selbst legitimierender Macht ersetzt. Das ist weit unter dem Niveau dessen, was ein waches Bewusstsein zu heißen verdient.