Tag: 13. September 2022

Verlust von Wahrheit

Eine Lesefrucht:
„Ich kann nicht positiv bestimmen, was Wahrheit ist, aber ich kann sagen, daß Denken heute, zumindest soweit es von der Gesellschaft gefordert wird, nicht im wesentlichen auf die Wahrheit gerichtet ist. Von diesen negativen Gesichtspunkten aus kann ich immerhin, wenn ich einen Menschen oder eine Gruppe von Menschen oder die ganze Gesellschaft eines Landes beurteile, eine Beziehung zu dem herstellen, was wir unter Wahrheit uns vorstellen … Ich meine, wir sind auf dem Weg zur verwalteten, rationalisierten, instrumentalisierten Welt, zur bürokratisierten Gesellschaft, in der der Einzelne und sein Bedürfnis nach Wahrheit, nach einem Sinn des Lebens, nichts mehr gilt … Was wir Geist nennen und was mit Wahrheit zusammenhängt, denkerische Spontaneität, das, was zum Beispiel wahre Phantasie bedeutet, das alles ist in unerhörter Gefahr, weil es kaum noch gepflegt wird. Eben deshalb möchte ich damit schließen, daß ich sage: Was wir tun können, ist nichts anderes, als diese Wahrheit im Denken, die wir nicht positiv bezeichnen können, aber die doch immerhin eine solche Macht bedeutet, daß wir sehen, was unwahr ist, was nicht recht ist, was gegen die Ideen gerichtet ist, die wir mit dem Begriff der Wahrheit verbinden – diese Wahrheit im Denken also so lange wie möglich zu erhalten und selbst gegen den Zug der Zeit auszubreiten versuchen.“*

Max Horkheimer, Wahrheit im Denken, Gesammelte Schriften 13, 106f.