Monat: September 2022

Woke

Das Bewusstsein für Komplexität in einer Gesellschaft, die sich als wach genug erweist, die feinen Unterschiede nicht nur zu erkennen, sondern auch zu pflegen (im Gendern, den Alltagsformen des versteckten Rassismus, im Schutz von politischer Korrektheit und sozialer Gerechtigkeit), dieses aufmerksame Wissen um Vielfalt zeigt sich erstaunlich einfältig, wenn es sich auseinandersetzen muss mit Einwänden, die selber Komplexität einfordern. Da verliert nicht zuletzt ein eher schlichter Unterschied, die Differenz zwischen Empfindsamkeit, die den Reichtum kultureller Spielarten schätzt, und Empfindlichkeit, die ihn weniger erträgt und das Leben reduziert, seine Bedeutung. Und höchst reizbar, also gar nicht empfindsam, aber empfindlich, fallen die Reaktionen aus, wenn Kritik aufkommt, etwa dass individuelle Verletzbarkeit kein absolutes Kriterium sein kann für den Gebrauch der Sprache (weil sonst am Ende über nichts mehr ohne Furcht geredet werden kann; jedes Wort kann potentiell tief schmerzen) oder die Grammatik für das Partizip Präsens anderes vorsieht als eine geschlechtsneutrale Bezeichnung (der Bäcker ist eben kein Backender in Momenten, da er nicht backt). Am Ende wird Komplexität ohne Not einkassiert und durch den Killergestus sich selbst legitimierender Macht ersetzt. Das ist weit unter dem Niveau dessen, was ein waches Bewusstsein zu heißen verdient.

Viele sind aufgeregt

Es gibt eine Ruhe, die auch jene noch nervös macht, die es bisher nicht sind, und jene anderen nicht entspannen lässt, die sie besänftigen will.

Zur Ästhetik der Moral

Das Ressentiment ist eine ungeheure Gestaltungskraft. Wenig bewegt so viel wie die Motive Neid oder Missgunst. Aber sie machen Menschen nicht nur gehässig. Sondern auch hässlich.

Die gute Regierung

Nicht: es allen recht zu machen, sondern: für das Ganze das Richtige zu suchen, das macht eine gute Politik aus.

Die aufgeklärte Aufklärung

Der aufgeklärte Geist, der nichts im Letzten akzeptiert als den (selbst-)kritischen Verstand, kennt keine Grenzen. Vor nichts macht sein forschender Antrieb halt, nicht einmal vor sich selbst. So trifft er auf jene Wahrheit, die noch jeder radikalen Diagnose, jeder schonungslosen Bilanz als Hindernis sich in den Weg stellt. Und das nur so zu überwinden ist, dass man sie als tiefe Einsicht erträgt: „Wer das Wissen mehrt, mehrt den Schmerz.“*

* Karl Jaspers, Philosophie 1, 141

Entlastungspaket

So schief, wie geurteilt, ist die Metapher vom Entlastungspaket gar nicht. Pakete, die entlasten, lassen sich nicht vorstellen; doch mit jeder Zuwendung, die der Wählerklientel das Leben bis zur nächsten Stimmabgabe erleichtern soll, ist die Frage heimlich verknüpft, wer das bezahlen wird: Wer hier entlastet, füllt dort ein Paket. Solange politisches Handeln weder Teilhabe noch Teilen bedeutet, sondern die feine Übersetzung schlichter Umverteilung darstellt, geht das Versprechen der Unterstützung einher mit moralischer Übergriffigkeit. Der Erträglichkeit entspricht passgenau jener Ertrag, der als Übergewinn wohlfeil umgedeutet dem staatlichen Zugriff freigegeben ist.