Monat: April 2023

Es wäre besser, wenn …

Man kann nur verraten, wozu man eine gewisse Nähe hat. Denn diese Form der Verschworenheit, mindestens aber eine lose Beziehung zwischen zweien ist, was im Bruch plötzlich nicht mehr gelten soll. Dann ist kaum entscheidend, was verraten wurde, sondern nur noch, wer. In dem Augenblick, da „ein Judasgedanke aus [der] Seele“* tritt, steht das Verhältnis auf dem Spiel. Die zwei Arten des Verrats, die in der Passionsgeschichte eine prominente Rolle innehaben, der Kuss des Judas und das Leugnen des Petrus vor der Magd, unterscheiden sich an diesem Punkt. Der, über den das Tragödienurteil verhängt wird, es wäre besser, er wäre nie geboren worden (Matth. 26,24), bringt sich um; der andere, der zum Gemeinde- und Kirchengründer auserkoren wurde, weint bitterlich (Luk. 22,62) und bereut. Judas hat mit der Nähe zum Weltenerlöser auch sich verraten, Petrus hingegen über dem Verrat seine Nähe überhaupt erst schmerzhaft verspürt. Nicht dass die Treue aufgekündigt wurde, macht die Geschichte zur Katastrophe. Sondern dass mit diesem Verrat auch das Verhältnis zerstört war.

* Conrad Ferdinand Meyer, Jürg Jenatsch, 170

Nein heißt Nein

Die Fähigkeit, nein zu sagen, ist der vielleicht entschiedenste Nachweis von Unabhängigkeit. Zu ihr gehört aber auch die andere, die gleichsam passive Seite: nein zu hören. Da gibt es wohl kaum eine Ablehnung, die nicht als schmerzhaft erfahren wird. Auf diese Negation, auch das ist der Eigenständigkeit zu eigen, aber lässt sich antworten: mit Widerstand oder Akzeptanz, Verstehen und Gleichmut, mit tiefem Befremden, das durch oberflächliches Wohlwollen kaschiert wird. Dem Nein ein Nein entgegenzuhalten, glückt indes nur bedingt. Revisionen sind selten. Wie die Ermattung eine Negation der körperlichen Leistungsfähigkeit darstellt, das Scheitern ein Zeichen der Überforderung sein kann, der versagte Wunsch als Laune des Schicksal gedeutet wird, so sind sie doch alle Repräsentanten des letzten Nein, das unter dem Namen „Tod“ keinen Widerspruch mehr duldet, so sehr es die Auflehnung ein Leben lang provoziert hat. (Vielleicht ist die Tradition des Osterlachens die überlegenste Art, auf den Anspruch zu reagieren, ein endgültiges Nein ausformuliert zu haben. Dem tödlichen Ernst hallt entgegen, dass das einfach nur ein Witz sei.)

Alles dokumentiert

Der Irrsinn unserer Zeit, der sich im Namen des Dokumentationszwangs ein unfragliches Statut der Selbstentmündigung geschaffen hat, entstammt kaum einem peniblen Geschichtsbewusstsein. Nicht für Nachfolger oder Spätlinge sind die Akten und Dateien, Filme oder Belege bestimmt, sondern für den Fall, sich rechtfertigen zu müssen. Was keinen interessiert, gerät jenseits verbreiteter Ignoranz allenfalls in den Blick, wenn das Problem sich stellt, wer denn schuldig genannt zu werden verdient. Alles also wird so geordnet und geschrieben, dass dieser Fall nie eintreten kann. Vollendet erscheint die unausgesetzte Mühe nachzuweisen, es nicht gewesen zu sein, wenn nebenbei auch noch die Bestätigung gelingt, schon deswegen nicht in Frage zu kommen, weil vor lauter Pflicht zum Bericht die Zeit zum Leben zu knapp wurde.

Lautes Schweigen

Politikerspiel: Das Geben einer Antwort gibt keine Antwort.

Mehr als eine Eselei

Es sind eine Reihe von weitgespannten Eigenschaften, die dem Esel nachgesagt werden, jenem Symboltier, das im Prophetenwort, einst werde der König auf ihm nach Jerusalem reiten (Sacharja 9,9), seine literarische Grundfigur erhalten hat: störrisch und eigensinnig, friedfertig und ausdauernd, diensteifrig oder sexuell potent, lastkräftig, aber sensibel. Dennoch: Der Esel ist kein Pferd. Und wird schon deswegen gern unterschätzt. Das sollte nicht überlesen werden in einer Geschichte, die von der Überschätzung handelt, der Erzählung vom Weltenherrscher, dem Palmenzweige auf seinem vorletzten Weg zu Füßen gelegt werden. Und der wenig später am Kreuz endet. So überreizt das Publikum dargestellt wird, das am Rand steht und dem Messias zujubelt, so unterbewertet ist der Esel, auf dessen Rücken sich das Geschehen abspielt. Das flirrende Changement zwischen Verehrung und Verirrung gehört allerdings zur Sache der Passion. Denn jenseits von Edlem und Elendem ereignet sich Eigentliches: die Paradoxie eines absoluten Endes, das als absoluter Anfang verstanden werden will in der Antwort auf die Frage: „Was sucht Ihr den Lebenden bei den Toten?“ (Luk. 24,5)

Von den Wirkungen der Philosophie

Einen der heitersten Sätze über den höheren Nutzen der Philosophie hat Montaigne formuliert in seinem Essay über die Erziehung der Kinder: Das gewisseste Anzeichen für Weisheit, schreibt er, sei eine anhaltend gute Laune.* Nichts bezeichnet klarer, was im ausgereiften Zustand den Namen Souveränität verdient und sich in der unbeirrten Fähigkeit zum Abstand von allem, was Gegenstand des Denkens sein kann, ausdrückt.

* „La marque la plus caractéristique de la sagesse, c’ est une bonne humeur permanente.“ – Essais I, 25. 61