Zwischen dem, was eine alte philosophische Überlieferung Urteilskraft nennt und dem unbedachten Gebrauch von Vorurteilen besteht ein Zusammenhang. Je stärker jene ausgebildet ist, desto geringer ist der Umgang mit diesen. Es war einmal der Adel der Aufklärung, sich den Formen unserer Intoleranz zu widmen, Vorbehalte, Verblendungen oder Voreingenommenheiten zu entlarven und scharf zu kritisieren. Von dieser Kritik scheinen inzwischen nur atemlose Reflexe übrig zu sein, die selber klischeehaft vieles unnötig und übersensibilisiert unter Verdacht stellen und canceln, was den eigenen Vorurteilen zuwider ist. Da herrscht nicht mehr Vernunft, sondern ein neuer ganz und gar dogmatischer Aberglaube, der zwischen Meinen und Wahrheit keinen Unterschied sieht und Lautstärke für deren Kriterium hält.