„Russland ist eine absolute Monarchie, die durch Mord gemäßigt wird.“*
* Astolphe de Custine, La Russie en 1839
„Russland ist eine absolute Monarchie, die durch Mord gemäßigt wird.“*
* Astolphe de Custine, La Russie en 1839
Die drei Minimaleigenschaften dessen, was qualitativ gut genannt zu werden verdient: Es ist kurz, genau und leicht.
Die schamlose Rücksichtslosigkeit, mit der Mitglieder des Kabinetts übereinander herfallen, ist der blasse Widerschein der Hoffnungslosigkeit, mit der sie auf den nächsten Wahltermin blicken.
Die meisten Geschichten, die wir erfinden, stammen aus dem heimlichen Wunsch, in einer Welt, die für das eigene Heldentum oft keinen Platz vorhält, dennoch unbehelligt und strahlend zu erscheinen. Es ist der Alltagsnarzissmus, der in den eigenen Erzählungen die Schuld den anderen zuschiebt und mindestens mit der kleinsten Form der Überlegenheit triumphiert: von dem, was quält und schmerzt, leidet oder Empfindsamkeit verlangt, nicht berührt worden zu sein.
Was heißt: denken? Es ist die Fähigkeit, nicht nur zu verstehen, was Wörter und Sätze bedeuten, indem sie beschrieben werden in ihrem Sprachgebrauch. Sondern zu jedem Begriff eine Anschauung zu finden, die ihn erklärt. Und wenn das nicht möglich ist, die Gründe plastisch werden zu lassen, warum es bei einer Abstraktion bleiben muss.
Der Mythos vom Paradies, heute erzählt, ist die Geschichte von einer Welt vor der Bürokratie.
Medien – das waren schon immer kulturelle Institutionen, die letztlich eine Frage zu beantworten verlangen: Stimmt das, was ich da höre, sehe, lese? Nichts fordern sie so heraus wie das Vertrauen, dessen Belastbarkeit sie an der Verlässlichkeit erproben, die seit jeher „Wirklichkeit“ genannt wird. Was aber, wenn dieser Test nicht mehr gelingt, weil die Kriterien für das, was Realität zu heißen verdient, abhanden gekommen sind durch deep fakes? Dann haben wir es mit Neuen Medien zu tun, die nicht mehr durchsichtig sind hin zur Welt, sondern diese zu ersetzen suchen.
Das Los der Regierung in einer Legislaturperiode: Meist beginnt Politik mit der ehrlichen Absicht zu gestalten. Und oft endet sie als Reparaturbetrieb. Angetreten als prägende Bildner und Modellierer, müssen die vom Volk entsandten Agenten ernüchtert als Erneuerung kaschieren, dass sie in vielen Fällen nicht mehr erreichen, als Löcher zu stopfen, ja nicht einmal dies. Was als Instandhaltungsprojekt Unsummen verschlingt, war einst eine stolze Idee.
Die meisten Gefühle sind entfernungsabhängig. Nur dass sie sich unterscheiden in der Art, wie Abstand und Nähe wirken: ob sie eher gestärkt werden oder geschwächt. Liebe, um gleich ins hohe Regal zu greifen, bleibt stabil oder wächst sogar, trotz einer Distanz. Das Mitleid hingegen bleibt nicht, je ausgedehhter der Zwischenraum ist, auch zeitlich. Trauer oder Wut zeigen ähnliche Effekte; sie verfliegen oder wandeln sich. Am stärksten ist die Freude von unmittelbarer Präsenz beeinflusst. Sie sucht die Nähe, ein Ereignis, das direkt bevorsteht. Da ist sie fast schon distanzlos. Aber so ganz verschmilzt sie, die so viel erwartet, dann doch nicht mit dem, was sie erhoffte, wenn es schließlich eingetreten ist. Das ist der Augenblick, von dem an sie unmerklich wieder nachlässt.
Es ist das Paradox politischer Macht, dass man manchmal Gewalt anwenden muss, um die Gewalt zu ächten.
Aus dem noch ungeschriebenen Roman
„Früher, als ich noch älter war, …“, diese logische Unform eines Satzanfangs schoss ihm in den Kopf, als er seine ersten Texte wieder las, die er zur Veröffentlichung freigegeben hatte. Da passte, was sonst kaum Sinn ergibt: dass ein Rückschritt in der Zeit einen Zuwachs an Erwachsensein und Reife bedeutet. „Früher“ gehörte eigentlich zu den verbotenen Wörtern, wie „eigentlich“ auch. Aber der Überraschung über die Frische, Klarheit, ja Abgeklärtheit von Stil und Inhalt längst entrückter Publikationen schien ihm diese Wendung einzig angemessen zu sein. Er führte eine recht passable Liste mit solchen unredlichen Ausdrücken, die er tapfer verabscheute – tapfer, weil er sich so nicht selten gegen den Zeitgeist stellte, den er für sprachschlampig hielt. Da fanden sich amtliche Ungetüme wie „nichtsdestotrotz“ oder „desweiteren“, Anbiederungssuperlative wie die „herzlichsten“ oder „liebsten Grüße“, der Opportunistengruß „gerne“, bei dem schon das angehängte und gern gedehnte -e störte. Ja, er war empfindlich, wenn es ums Reden und Schreiben ging …
Es kommt gar nicht so selten vor, dass sinnreiche Pointen sich einen Prominenten als Urheber suchen, damit sie zu berühmten Zitat werden. Wie viele Sätze, deren Autorschaft nicht geklärt ist, sind wohl Zuschreibungen, die sie allererst bekannt gemacht haben. Die Aufmerksamkeitsökonomie funktionierte schon bestens, bevor das Medienzeitalter dieses Phänomen zu einem seiner entscheidenden Merkmale erklärte.
Aus einer Samstagslektüre:
„Nichts erscheint denen, welche die menschlichen Angelegenheiten mit einem philosophischen Blick betrachten, erstaunlicher als die Leichtigkeit, mit der die Vielen von den Wenigen regiert werden und die stillschweigende Unterwerfung, mit der die Menschen auf ihre eigenen Gefühle und Leidenschaften zugunsten derjenigen ihrer Herren verzichten. Fragt man sich, mithilfe welcher Mittel dieses Wunder bewirkt wird, so stellt man fest, daß die Kraft immer auf Seiten der Regierten ist, die Regierenden sich auf nichts anderes stützen können als auf die Meinung. Nur auf Meinung ist also die Regierung gegründet; und diese Maxime gilt für die despotischsten und kriegerischsten Regierungen ebenso wie für die freiesten und populärsten.“*
* David Hume, Über die ursprünglichen Prinzipien der Regierung, Politische und ökonomische Essays 1, 25
Was Würde ist? Warum sie als unantastbar deklariert wird? Beides hat zumindest eine zwingende Konsequenz: Alles, was Menschen sagen und tun, ist interpretationsfähig und interpretationsbedürftig.
Erkenntnistheorie der Wirtschaft: Die Wahrnehmung der Wirklichkeit wird zur Wirklichkeit.
In schönster Unbestimmtheit, die der Spekulation genau so viel Raum lässt, dass sie nicht ins Ungewisse überschießt, vereinen sich gleich drei Legenden, die unterschiedlichen Personen zugeordnet sind, zum Heiligen Valentin, dem Patron der Liebenden: ein Bischof aus dem umbrischen Terni, später in Rom gestorben, aus dem dritten Jahrhundert; möglicherweise dieselbe Figur, nun aber als Bischof von Rom vorgestellt; und aus dem fünften Jahrhundert ein Valentin von Rätien, der in einem Dorf bei Meran seine Ruhestätte gefunden hat. Der eine soll gerufen worden sein, wenn es darum ging, Wahnsinnige zu heilen. Epileptiker, so wird berichtet, habe er von ihrem Leiden befreien können. Der andere soll Ehepaaren mit Rat, wohl auch Tat, zur Seite gestanden haben, ja Legionäre verheiratet haben, denen diese Art der Bindung verboten war. Auch dem dritten Geistlichen, der in Südtirol und am Genfer See gewirkt hat, werden Heilkräfte wider die Fallsucht zugeschrieben, die im Volksmund zur Namensverspottung geführt hat: Valentin – Fall net hin. Welcher der drei nun angerufen wird in der Fürbitte derer, die nicht nur Blumen und Herzen verschenken am 14. Februar? Vielleicht gibt die Antwort der Psychoanalytiker Dr. Krokowski, den Thomas Mann im „Zauberberg“ nach dem Vorbild von Georg Groddeck gebildet hat, der als Vater der Psychosomatik gilt. Dort referiert also der Arzt vor den Insassen des Sanatoriums in Davos: „Das Krankheitssymptom sei verkappte Liebesbetätigung und alle Krankheit verwandelte Liebe.“* Was also wünschen am Tag geteilter Zuneigung? Dass man sein Herz auf der Zunge tragen möge und es sich keinen Umweg suchen muss über Fehlformen: Wahre Ausdrucksstärke denen, die etwas zu fühlen und zu sagen haben!
* Thomas Mann, Der Zauberberg, 181
Aus dem noch ungeschriebenen Roman
Den ganzen Abend über unterhielten sie sich, als hätten sie sich jüngst erst gesprochen, obwohl sie sich seit Ewigkeiten nicht gesehen hatten, nicht der Terminhatz wegen, sondern schlicht aus Nachlässigkeit: Sie tauschten Belangloses aus, kommentierten das im letzten Augenblick verlorene Pokalhalbfinale, erzählten einander von blödsinnigen und ganz und gar überflüssigen Nachbarschaftsstreits oder erörterten die präzisen Vorteile elektronischer Kettenschaltung beim Rennrad. Ihrer Freundschaft, die aufs Selbstverständlichste währte, hatte das keinen Abbruch getan. Das kam immer mal wieder vor, dass jeweils einer sich ziemlich lang nicht meldete. So gingen die Stunden dahin; die zweite Flasche des Primitivo di Manduria, von sechzig Jahre alten Reben gewonnen, war fast leer.
„Sag mal“, hob der Freund an, „das letzte Mal hast du eine Saxophonspielerin erwähnt, ich glaube so war‘s. Ich weiß nur noch, dass sie in einem Fabrikloft gewohnt hat. Was ist denn daraus geworden?“
„Wie: daraus geworden? Habe ich irgendwas vergessen zu erzählen?“
„Nein, nein. Verzeih, ich bin neugierig. Das weißt du doch. Gibt‘s die noch?“
„Was heißt hier: geben? Die hat es nie gegeben. Der lange Abend in ihrer durchaus imposanten Wohnung, von dem ich wohl berichtet hatte, war ein einziger Irrtum. Peinlich zum Schluss. Ich bin ihr danach nur noch einmal, eher zufällig, über den Weg gelaufen. Wir trafen uns in der Einkaufspassage und sind für einen Espresso ins nächste Café abgebogen. Sie hat sich da als eine glatte Projektionsfläche entpuppt, selber scheint ihr die Substanz zu fehlen. Das hatte ich zunächst nicht bemerkt. Voller hohler Phrasen war sie, weißt du, in dem Stil: Das war mir total wichtig, dass du deine Gefühle gezeigt hast. Selber gibt sie sich dagegen aus, als könne sie nichts umhauen, kalt, fischig, undurchsichtig, was man nicht verwechseln sollte mit geheimnisvoll. Wie sich herausstellte, arbeitete sie lange als Projektmanagerin im Marketing eines Konzerns, wurde dann bei einem mittelständischen Logistikunternnehmen in den Vorstand berufen, als Kommunikationsexpertin. Und spinnt dort, hörte ich jüngst, fleißig Intrigen.“
„Das tut mir leid.“
„Kein Grund. Es gibt Geschichten, die es nicht wert sind, dass man sie erzählt. Wahrscheinlich hat man sie ja nicht einmal erlebt, obwohl man ein Teil von ihnen war. In jedem Fall, an dem Abend dachte ich noch: Da flammt was auf. Der endete, wie du dich vielleicht erinnerst, etwas unglücklich; die Stimmung war gekippt, so dass ich abrupt aufbrach.“
„Und dann hast du sie nicht mehr angerufen? Keinen neuen Versuch unternommen?“
„Na ja. Ich habe mich bei ihr noch einmal entschuldigt für den schmucklosen Abschied. Da ich sie nicht an die Strippe bekam, habe ich ihr eine Nachricht geschrieben. Reagiert hat sie darauf nicht. Und, ich gestehe, mir war es so auch lieber.“
„Klingt, als sei das, was aufgeflammt war, kurz danach wieder erloschen.“
„Ich würde eher sagen: ausgeknipst, nicht erloschen. Es begann wohl wie das Aufflackern einer Kerze, die man entzündet hat. Aber kurz danach hörte es schon wieder auf wie ein Deckenlicht, das man am Schalter ausgeknipst hat.“
Der Freund stutzte. Dann schmunzelte er, ein leicht boshaftes Lächeln huschte übers Gesicht: „So ist es wohl in den meisten Beziehungen. Der Anfang ist romantisch; das Ende ist technisch.“
Je höflicher eine Beleidigung, desto tiefer trifft sie.
Nicht garantiert ist, wie von Konflikttheoretikern verheißen, dass Sprache und Gewalt einander so ersetzen, dass der Schrecken durch Kommunikation stets verhindert werden könnte (auch wenn er es allzu oft faktisch nicht wurde), weil das Reden die Herrschaftsgelüste eindämmt. Man kann über den Krieg auch so lange sprechen, dass er unvermeidlich zu sein scheint, nicht weil er unbedacht beschworen wird, sondern weil sich im Erörtern seiner Möglichkeit abzeichnet, dass Worte nicht die erwünschte Wirkung entfalten, im Gegenteil zu viel von ihrer eigenen Schwäche zeigen. Die Ohnmacht des Dialogs ist, dass er einen Effekt nie unmittelbar herbeiführt.
Auch wenn ein fester Zeitpunkt den Beginn der „fünften Jahreszeit“ markiert, Karneval hebt an am 11. 11. um 11 Uhr 11, ein Datum, das schon beim Lesen schwindelig macht, sind die tollen Tage dennoch abhängig vom Termin des Aschermittwoch. Die Fastnacht orientiert sich an der Fastenzeit, die wiederum genau vierzig Tage vor Ostern einsetzt, das abhängig ist vom ersten Vollmond nach Frühlingsanfang. Schon im Mittelalter galt es vor der Phase kulinarischer Enthaltsamkeit alles rasch zu verzehren, was dann über Wochen verboten war zu essen, in der „Nacht“ vor dem Fasten, die inzwischen deutlich länger währt. So der kulturelle Ritus. Die psychologische Abfolge, die den anarchischen Augenblicken, in denen zwar nicht alles erlaubt ist, jedermann sich aber vieles meint erlauben zu können, danach mit einem strengen Ordnungsrahmen beendet, verkennt die tiefere Struktur. Es ist die Ahnung, am Leben zu scheitern, die sich im Rhythmus von Fastnacht, Fastenzeit und Ostern ein jahreszeitliches Dokument gibt: Erst kommt das Vergessen, das in der Reue sich eingesteht, nicht gelungen zu sein; dann rückt die Veränderung in den Vordergrund, die gestenreich der Reue vergeblich zu entsprechen versucht. Wie groß das Stückwerk in beidem ist, zeigt sich schließlich in der Feier der österlichen Verzeihung, die dem reumütigen Misslingen ein Moment von Entlastung und Erträglichkeit abringt.
Träume haben ein Ende, die Geschichten, die man träumt, nie. Dass etwas aufhören kann, ist das stärkste Signum von Realität.
Fast Food ist nicht nur ein Frontalangriff auf sämtliche Sinnesempfindungen, die sich beim Essen einstellen wollen: Geschmackserlebnisse, Duftwahrnehmungen, Zungenfreuden. Es heißt auch nicht nur so, weil die Speisen schnell hergerichtet sind, meist aufgewärmt in der Mikrowelle. Rasch sind diese Gerichte auch bei der Beseitigung des Hungergefühls, das plötzlich ins Gegenteil einer Anlagerung von schwerster Kost im Magenraum umschlägt, fast übergangslos. Man wird gesättigt, nicht bloß satt. Der Gesättigte verliert den Appetit, der Satte den Hunger.
Feigheit ist die Schwäche dessen, der glaubt, dass er viel zu verlieren hat.
Von Michelangelo wird erzählt, dass er, der Meister der dynamischen Form, der wie kein anderer seinen steinernen Figuren Leben eingehaucht hat, immer wieder die Arbeit unterbrach, ja abbrach, wenn er den Eindruck hatte, dass das Material sich widersetzte, dass aus dem Marmor die Skulptur sich nicht fügsam herausschälen ließe. Der Block, den er mit seinem Meißel behandelte, galt wie ein Gesetz, das sich gegen die autonome Gestaltungskraft richtete. Im Widerstreit zwischen Kunstwillen und Natur tauchte plötzlich ein Moment der Ehrfurcht auf, das zögern ließ und das eigene Bestreben einbremste. So blieb manches unfertig, nicht aus Unvermögen, sondern aus Prinzip. Das ist das Los jedes Endes, das Menschen setzen. Ob die Sache auch vollendet ist, das entscheiden nicht sie.