Monat: März 2024

Ein mythischer Blick auf die letzte Technik

Mit der Einführung dessen, was in der Digitalwelt spatial computing  heißt, von Brillen, die virtuelle Welten, augmented reality oder einen Mix aus beiden erlauben, schreitet die Verschmelzung von Mensch und Maschine ein nächstes großes Stück voran. Und mit ihr die wachsende Schwierigkeit, den Unterschied aufrechtzuerhalten zwischen einer Wirklichkeit, die als lebensweltlicher fester Boden anerkannt ist, die Unfraglichkeit und Gewissheit stiftet, und einer Welt aus Täuschung, Fiktion, Fake oder Lüge. Dieser Unterschied, noch moralisch beschrieben als Erkenntnis des Guten und des Bösen, war im Mythos vom Anfang der Anlass, den Menschen aus dem Paradies zu vertreiben. Nun wird die Differenz eingeebnet, das Weltwesen Mensch an eine Vorstellung gewöhnt, von der er immer mehr angezogen wird, die ihn fasziniert, ja süchtig zu machen vermag, eine künstliche Bilderexistenz, so dass er sie als Fluchtpunkt auserwählt, als Asyl vor den harten und widerständigen Anforderungen des Daseins. Es braucht nicht viel Phantasie, sich Individuen zu denken, die diese abgeleitete, zweite Welt als wahre Heimat empfinden und den Bezug zu den Tatsachen verlieren. Schon Platon hatte sie im Höhlengleichnis ausgeführt. Solche Geschöpfe werden in der Täuschung lieber leben wollen, mit der Fiktion paktieren wider Wahrheit und Präsenz, sich an den Betrug halten und ihn für die eigentliche Wirklichkeit erklären. Das alles ist schon geschehen. Noch lässt sich das eine oder andere Kriterium allerdings angeben, durch das ein solches abgeleitetes Leben entlarvt werden kann als Schein. Noch. Die Tendenz der Technik zielt auf deren Gleichgültigkeit. Der Unterschied zwischen Original und Fälschung, Wahrheit und Irrtum, Echtheit und Lüge, Welt und Scheinwelt wird keine entscheidende Rolle mehr spielen. In dem Augenblick, in dem sie eins zu sein scheinen, geschieht mehr als nur die Einebnung einer jahrtausendealten Differenz. Es geht um Alles oder Nichts: die Fähigkeit, noch vertrauen zu können, das Talent zu glauben. Eine Welt, in der Vertrauen und Glauben verschwunden sind, kennt nur noch Einsame. Sie freiwillig zu suchen und in ihr unbegrenzt Zeit zu verbringen, das kennt der Mythos als Hölle.

Verlustangst

Wann Tiere gefährlich werden: wenn sie etwas zu verlieren haben.
Wann Menschen am gefährlichsten sind: wenn sie nichts zu verlieren haben.

Das Privileg, ja zu sagen

Der Mensch entdeckt sich selbst als freies Lebewesen in dem Augenblick, in dem er die Fähigkeit, nein zu sagen, als Privileg begreift. Und er vollendet dieses Selbstverständnis, frei zu sein, wenn er diesen Vorzug zu negieren als Voraussetzung ansieht, entschieden ja sagen zu können.

Vor dem Urteil

Zwischen dem, was eine alte philosophische Überlieferung Urteilskraft nennt und dem unbedachten Gebrauch von Vorurteilen besteht ein Zusammenhang. Je stärker jene ausgebildet ist, desto geringer ist der Umgang mit diesen. Es war einmal der Adel der Aufklärung, sich den Formen unserer Intoleranz zu widmen, Vorbehalte, Verblendungen oder Voreingenommenheiten zu entlarven und scharf zu kritisieren. Von dieser Kritik scheinen inzwischen nur atemlose Reflexe übrig zu sein, die selber klischeehaft vieles unnötig und übersensibilisiert unter Verdacht stellen und canceln, was den eigenen Vorurteilen zuwider ist. Da herrscht nicht mehr Vernunft, sondern ein neuer ganz und gar dogmatischer Aberglaube, der zwischen Meinen und Wahrheit keinen Unterschied sieht und Lautstärke für deren Kriterium hält.

Die gute Ordnung

Aus einer Sonntagslektüre:

Ich gebe gern zu, dass die öffentliche Ruhe ein großes Gut ist. Indessen will ich nicht übersehen, dass alle Völker auf dem Wege über die gute Ordnung der Gewaltherrschaft verfallen sind … Ein Volk, das von seiner Regierung nichts fordert als das Wahren der Ordnung, ist in seinem Innersten bereits Sklave.“*

* Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika II, 208

Generation der Gewissenlosen

Unter denen, die gerade erwachsen geworden sind, gibt es etliche, die nicht ihre Unschuld verloren haben, sondern ihre Schuld. Verlorene Schuld, das meint immer eine unbelastete Erinnerung. Die Gewissenlosigkeit hat keine Geschichte.

Entscheidungsangst

Nirgendwo wird so deutlich wie in einer Entscheidung, dass Freiheit und Angst zwei Seiten ein und desselben Phänomens sind.