Wege der Freiheit

Wirtschaftliche Abhängigkeit, die nicht wechselseitig ist, wird schnell zur politischen. Die politische Abhängigkeit, die nicht machtbalanciert ist, wird leicht militärisch. Militärische Abhängigkeit, die nicht partnerschaftlich ist, endet in ideologischer.

Ehegattensplitting

Deutsche Vorstellung von Gerechtigkeit: Man trifft sich im Restaurant als Paar zum trauten Abendessen, beim Bezahlen aber rechnet jeder den Anteil des anderen exakt heraus.

An der Schwelle zum Goldenen Zeitalter

Das ist das Versprechen und die Verlegenheit der Demokratie gleichermaßen: dass der Superlativ keine politische Funktion hat.

Der Philosoph

Aus einer Sonntagnachmittagslektüre

„Der Philosoph ist der Freund des Begriffs, er erliegt der Macht des Begriffs. Das bedeutet, daß die Philosophie nicht eine bloße Kunst der Bildung, Erfindung oder Herstellung der Begriffe ist, denn die Begriffe sind nicht notwendig Formen, Fundstücke oder Produkte. Im strengeren Sinn ist die Philosophie die Disziplin, die in der Erschaffung der Begriffe besteht. Der Freund wäre der Freund seiner eigenen Schöpfungen? Oder ist es der Akt des Begriffs, der auf die Macht des Freundes verweist, und zwar in der Einheit des Schöpfers mit seinem Doppelgänger? Stets neue Begriffe erschaffen ist der Gegenstand der Philosophie … Was wäre ein Philosoph wert, von dem man sagen könnte: Er hat keinen Begriff erschaffen, er hat seine Begriffe nicht erschaffen?“*

* Gilles Deleuze, Félix Guattari, Was ist Philosophie?, 9.10

Gespielter Ernst

Es steht ernst um die Welt, je mehr die Mächtigen ihre Ämter als Spielfeld nutzen.

Ich und Welt

Im Museum: der eine Künstler lässt die Welt entdecken durch seinen subjektiven Blick auf sie; der andere offenbart vor allem sich in der Wahl der Objekte, die er darstellt.

Gewichtig

Beobachtungen in der Bahn: Die Menschen sind so dick, weil sie sich langweilen. Sie wissen nicht, wie sie sich sinnvoll beschäftigen sollen. Also fangen sie an zu essen.

Die Falle der Witzbolde

Humor ohne Demut ist Süffisanz. Das ist die Falle, in die so mancher hineintappt, der sich den Abstand zur Welt übers Lachen erarbeitet, dass er ihn zugleich als Arroganz artikuliert, als lächelnde Geste der Herablassung gegenüber denen, die vermeintlich nicht verstanden haben, wann eine Sache ernstzunehmen nicht lohnt. Der Humor hingegen weiß genau, wo es geboten ist, sich selbst nicht für so wichtig zu halten, dass nicht jederzeit aus dieser Distanz zum Eigenen ein spannungsreicher Kontrast auch zu den Wirklichkeiten abgeleitet werden könnte, die uns umgeben, ohne sich gleich eitel auszunehmen.

Ein gelungener Tag

Noch darf jeder Tag als gelungen angesehen werden, der Zeit genug schenkt, sich in einem Buch zu verlieren, was so viel bedeutet wie: mit fremden Worten zu denken, weil man vergessen hat, dass man liest; sich in unbekannten Situationen vorfinden, weil die Erzählung in den Text hineingezogen hat; die Leere spüren, die plötzlich einsetzt, sobald die letzte Seite umgeschlagen ist. Alle Lektüre zielt auf die Selbstvergessenheit des Rezipienten.

Politikbetrieb

Das Problem des Politikbetriebs: zu viel Betrieb, zu wenig Politik. Die Routinierten der Macht haben vergessen, wie groß die Macht ist, die im Unroutinierten liegt.

Verkaufsinitiative

Es ist ein Fehler zu meinen, dass ein Unternehmen, das aufhört, etwas zu verkaufen, weil die Märkte sich wandeln, wieder erfolgreich wird, wenn es sich an die Märkte so anpasst, dass es beginnt, sich zu verkaufen.

Absolut glücklich

Der Absolutheitsanspruch des Glücks artikuliert sich in einer Alternative: entweder du verlierst dich, oder du verlierst mich.

Lückenfüller

Dass die, die das Sagen haben, nicht immer was zu sagen haben, ist der Anlass zu Beratung.

Vorteil Vorurteil

Das ist der Vorteil des Vorurteils: Man weiß schon vorher, warum einer das sagt, was er dann sagt.

Wach im Geist

Ein geistig wacher Mensch kennt seine Zukunft, noch bevor er ihr begegnet.

Autokratie und Demokratie

Demokratie: Freiheit instrumentalisiert die Macht.
Autokratie: Macht instrumentalisiert die Freiheit.

Faulig

Es gibt ein einfaches Kriterium, nach dem eine Übereinkunft zwischen heftig widerstreitenden Parteien als geglückt bezeichnet werden kann: Der Kompromiss ist so lange kein faul(ig)er, wie er diejenigen nicht kompromittiert, die ihn geschlossen haben. Es scheint, dass das in demokratisch verfassten Gesellschaften politisch immer seltener möglich sein wird.

Sei anständig

Der erhobene Zeigefinger, gelegentlich auf den politischen Gegner gerichtet, zeugt von der Verlogenheit der Anstandsgeste in einem Betrieb, in dem die hohen Prinzipien dem Zwang zur Pragmatik noch stets geopfert werden. Wer die Politik moralisiert, politisiert die Moral. Beides verträgt sich nicht instrumentell, seit lange Kriege geführt wurden, nur weil man sich dem Gegner so in der Wahrheitserkenntnis überlegen dünkte, dass man ihn kurzerhand zum Feind erklärte. Der Vorwurf der Unanständigkeit hat oft etwas Hilfloses, inszeniert wie im Schwarzweißfamilienfilm, wenn der knöchrige Opa nach dem Jungenstreich wütend mit dem Stock in der Luft herumfuchtelt, auch wenn er als Ordnungsruf zur Geschäftsgrundlage zurückführen will. Und gar nichts Erhabenes, gerade weil mit ihm einer sich über den anderen erhebt. Im Politischen gilt, dass solcherart Urteile dem Beobachter, und letztlich dem Wähler, überlassen bleiben sollten. Sie könnten sonst unversehens zum Bumerang werden.

Ober sticht Unter

Für den Narzissten ist die Ordnung der Welt ganz einfach: Sie ist hierarchisch. Und Oben ist, wo er steht.

Nach dem Sturm

Der Sturm, der mit Orkanstärke über die Insel gefegt ist, hat sich gelegt. An einen Spaziergang am Meer war in den naturgewaltigen Tagen davor nicht zu denken. Zu wild, zu mächtig blies das Wetter seine Backen auf und pustete das Zeug, das sich nicht mehr halten konnte, über die Weiden, ausgerichtet wie an einer straffen Schnur: Mülltonnen, die nicht beschwert waren, Kunststoffkanister, Unrat, Sand, den Weihnachtsschmuck, der sich vom Baum vor der Tür gelöst hatte, Papierfetzen. So mancher war auf das Eiland gekommen, um in den ruhigen Tagen den Kopf zu klären. Nun saß er am Kachelofen und schaute trübe ins tobende Trübe. Ob die Gedanken heller geworden sind? Vielleicht nicht, aber in jedem Fall wesentlicher. Was das heißt? Sollte man es vergessen haben, so weiß man wieder, worauf es einem ankommt. Wenn die Weite unerreichbar ist, öffnet sich die Tiefe: für die einen als Abgrund, den anderen als Fundament.

Das Ende der Gewalt

Man muss es leider so sagen: Erst, wenn Gewalt keine Nachricht mehr wert ist, wird die Macht jener aufhören, die mit ihr Angst und Schrecken einzujagen versuchen. Es ist der Moment, in dem Menschen nichts mehr zu verlieren haben. Und sich entscheidet, ob sie sich verloren geben.

Übergangszeit

Aus einer Neujahrslektüre

Heute zwischen Gestern und Morgen

Wie Gestern und Morgen
sich mächtig vermischen!
Hier ein Stuhl – da ein Stuhl –
und wir immer dazwischen!
Liebliche Veilchen im März –
Nicht mehr.
Proletarier-Staat mit Herz –
Noch nicht.
Noch ist es nicht so weit.
Denn wir leben –
denn wir leben
in einer Übergangszeit –!

Geplappertes A – B – C
bei den alten Semestern.
Fraternité – Liberté –
ist das von gestern?
Festgefügtes Gebot?
Nicht mehr.
Flattert die Fahne rot?
Noch nicht.
Noch ist es nicht so weit.
Denn wir leben –
denn wir leben
in einer Übergangszeit –!

Antwort auf Fragen
wollen alle dir geben.
Du mußt es tragen: ungesichertes Leben.
Kreuz und rasselnder Ruhm –
Nicht mehr.
Befreiendes Menschentum –
Noch nicht.
Noch ist es nicht so weit.
Denn wir leben –
denn wir leben
in einer Übergangszeit –!*

* Kurt Tucholsky als Theobald Tiger, in: Gesammelte Werke 1932, Band 10, 90f.

Jahreswechsel, kurz und knapp

Vergessen ist die Vergangenheit der Zukunft.
Erinnerung ist die Zukunft der Vergangenheit.

Falsche Propheten

Kurz vor dem Datumswechsel kommt die Zeit der Jahresausblicke. Da behaupten einige, genauer zu sehen und mehr zu wissen als das Gros. Diese modernen Propheten zielen auf Bestätigung, doch es sind nicht die vielfach fragwürdigen Voraussagen, die sie erfüllt sehen wollen, sondern sie suchen beglückte Klienten, die so ihre eigenen Ansichten attestiert bekommen. Nie ist Zukunft gewisser als in den Augenblicken, da sie die privaten Erwartungen getreu, wenn auch nicht immer wirklichkeitsgetreu, abbildet.