Zukunftszenario

Diese Welt wird nur überleben, wenn es dem Menschen gelingt, sich von sich selbst zu befreien.

Heißes Pflaster

Der heißeste Tag des Jahrs hält allzu viele nicht davon ab, der Stadt einen Besuch abzustatten, nach alter Samstagfrühnachmittagsgewohnheit zum sinnleichten Bummel über die Einkaufsmeile. Der Brutofen, auf gut fünfunddreißig Grad erhitzt, bringt die Luft zum Stehen zwischen den Betonmauern. Und verbackt die Menschen zu einer zähen Masse, die von hier nach dort kriecht. Viele mit vornüber gebeugtem Kopf, den Blick versonnen auf den Bildschirm des Smartphones gerichtet, gelegentlich ein Lächeln, das periphere Sehen ausgeschaltet, das Hirn eingeschmolzen. Am einen Ende der Straße traktiert der Saxophonspieler sein Instrument mit den drei immergleichen Melodien. Er hat Konkurrenz bekommen von einem mäßig begabten Liedermacher, mit Hannes Wader oder Reinhard Mey verbindet ihn nur der Songtext „Frieden“, den er ins billige Mikrophon grölt. Zwei Palästinenserfähnchen schwingen im gerade so gehaltenen Takt. Wieder ein paar Meter weiter dröhnt Hiphop aus den Boxen; eine kleine Gruppe Streetdancer übt sich ein ins Trinken, die Wodkaflaschen fast geleert. Zuletzt kämpft vergeblich ein vereinzelter Gerechter für Gerechtigkeit in irgendeinem südostasiatischen Land, von dem die allermeisten noch nie etwas gehört haben. Wie auf einer Wäscheleine hat er sein Programm seitenweise aufgehängt – keiner liest auch nur eine Zeile. Jeder steckt in seiner Welt fest; in Summe sind es viele tausend. Das Interesse an „der“ Welt? Nicht vorhanden. Fragte man sie später, was sie erlebt haben, erntete man nur Achselzucken oder einen abschätzigen Blick des Unverständnisses ob einer solchen Frage. Summer in the City, das ist auch alles, was diese Menschen noch verbindet. Nicht nur meteorologisch oder architektonisch, auch soziologisch ist das ein heißes Pflaster.

Ohne Hemmung

Aus einer Freitagabendlektüre

„Der Krieg, an den wir nicht glauben wollten, brach nun aus, und er brachte die – Enttäuschung. Er ist nicht nur blutiger und verlustreicher als einer der Kriege vorher, infolge der mächtig vervollkommneten Waffen des Angriffes und der Verteidigung, sondern mindestens ebenso grausam, erbittert, schonungslos wie irgendein früherer. Er setzt sich über alle Einschränkungen hinaus, zu denen man sich in friedlichen Zeiten verpflichtet, die man das Völkerrecht genannt hatte, anerkennt nicht die Vorrechte des Verwundeten und des Arztes, die Unterscheidung des friedlichen und des kämpfenden Teiles der Bevölkerung, die Ansprüche des Privateigentums. Er wirft nieder, was ihm im Wege steht, in blinder Wut, als sollte es keine Zukunft und keinen Frieden unter den Menschen nach ihm geben. Er zerreißt alle Bande der Gemeinschaft unter den miteinander ringenden Völkern und droht eine Erbitterung zu hinterlassen, welche eine Wiederanknüpfung derselben für lange Zeit unmöglich machen wird.“*

* Sigmund Freud, Zeitgemäßes über Krieg und Tod, in: Das Unbehagen in der Kultur und andere kulturtheoretische Schriften, 138f. 

Aus der Grammatik der Klugheit

Das genaue Gegenteil von Klugheit ist gar nicht so ausgemacht, wie es den Anschein hat: Neben der Dummheit bieten sich auch an Maßlosigkeit, Arroganz und, im pejorativen Sinn, Naivität. Mit der Dummheit aber hat die Klugheit gemein, dass von beiden sinnvoll kein Plural gebildet werden kann. Die scheinbare Vielzahl, Dummheiten und Klugheiten, sind in Wahrheit Verniedlichungsformen, die selbst in Unzahl nie das Format erreichen, das das jeweilige Singularetantum, Klugheit und Dummheit, voraussetzen.

Nur keine Kompromisse

Man darf mit denen, die der Fähigkeit zum Kompromiss kompromisslos entgegentreten, keinen Kompromiss eingehen. Einmal muss die Demokratie sich selbst verraten und zur Diktatur werden: beim Angriff derer, die die Demokratie verraten und eine Diktatur wollen. Mittäter sind oft die, die nichts tun.

Das Problem der Probleme

Zivilisation bedeutet die Fähigkeit, ihre Probleme so auszuformulieren und einzuschränken, dass Gewalt sich nie als Lösung anbieten kann.

Das große Ich

Zur Größe des Ich gehört, dass es mehr sieht als sich selbst. Es kommt nicht darauf an, das eigene Ich aufzublähen, sondern es zu überschreiten. Du und Wir, der Andere, das Fremde  machen das Ich nicht klein, sondern bereichern es.

Geist

Es gibt eine Freude, die einen Menschen auch dann erfüllt, wenn ihm das Lachen vergangen ist.

China feiert die Bombe

Aus einer Samstagslektüre

„Die erste chinesische Atombombe detonierte am 16. Oktober 1964 bei Lop Nor in der Wüste Gobi. Die Seidenstraße hatte durch dieses Gebiet geführt und Zentralchina über die weiten Kontinente Europas und Asiens hinweg mit der Mittelmeerküste verbunden. Durch diese unfruchtbare und unbewohnte Wüste waren einst Seide, Gewürze, Edelsteine, Kunst und Kultur mit all ihrer Pracht und Herrlichkeit transportiert worden – ein Austausch, der die alten Kulturen angeregt und ihnen neues Leben eingehaucht hatte. Lop Nor hatte also schon zahlreiche Anstöße und Anregungen erfahren. Nun, fast zwei Jahrtausende später, war es die Wiege für einen anderen ,großen Knall‘, einen von Tod und Zerstörung.
Das Atomtestgelände war ursprünglich von den Sowjets ausgewählt worden. Dort hatten Ingenieure der Armee, Wissenschaftler und Arbeiter jahrelang in Lehmhütten und Zelten in völliger Abgeschiedenheit gelebt und Sandstürmen, glühender Hitze und eisigen Winden getrotzt.
Am Tag der Detonation wartete Mao auf den bedeutenden Augenblick in seiner Suite in der Großen Halle – die auf den Namen  ,des Volkes‘ getauft war, obwohl sie für jeden, der nicht eingeladen war, unerreichbar war. Sie lag am Platz des Himmlischen Friedens nur einen Steinwurf vom Regierungsviertel Zhongnanhai entfernt und war so gebaut, dass sie jeder Form von Militärangriff widerstehen würde; es gab sogar einen Atombunker. Die Suite, die ganz auf die Wünsche Maos zugeschnitten war, trug im Rahmen der üblichen Geheimnistuerei den Codenamen Suite 118. Mao konnte sie direkt mit dem Auto erreichen. Innen führte ein Fahrstuhl zu einem Fluchttunnel, breit genug für zwei Lastwagen nebeneinander, der zu den unterirdischen Militärzentralen am Stadtrand von Peking verlief. Direkt neben der Suite befand sich die Bühne eines gigantischen Auditoriums, sodass Mao auftreten und wieder gehen konnte, ohne engen Kontakt zum Publikum aufnehmen zu müssen.
An jenem Tag warteten neben Maos Suite 3000 Darsteller, um ein musikalisches Ausstattungsstück ,Der Osten ist rot‘ zur Aufführung zu bringen; es war von Chou En-lai inszeniert und sollte den Mao-Kult fördern. Der Titel war der ,Mao-Hymne‘ entnommen worden:

Der Osten ist Rot,
Die Sonne ist aufgegangen,
China hat einen Mao Tse-tung geboren.
Er hat sich dem Wohle des Volkes verschrieben,
Er ist des Volkes großer Retter.

Sobald bestätigt war, dass der Test erfolgreich verlaufen war, setzte die Musik ein, helle Lichter erstrahlten und Mao trat breit lächelnd auf die Bühne, flankiert von der gesamten Parteispitze. Er winkte den 3000 Darstellern und gab Chou En-lai ein Zeichen zu reden. Chou trat vor die Mikrofone: ,Der Vorsitzende Mao hat mich gebeten, euch eine gute Nachricht mitzuteilen…‘ Dann verkündete er, dass die Atombombe gezündet worden war. Die Menge schwieg; die Zuschauer wussten nicht, wie sie reagieren sollten, man hatte ihnen keine Anweisung erteilt. Chou half nach: ,Ihr könnt nach Herzenslust jubeln, springt nur nicht durch die Decke!‘ Woraufhin alle zu schreien begannen und in offensichtlicher Hysterie auf und ab hüpften. Mao war der einzige Staatschef auf der Welt, der die Geburt dieses Monsters der Massenvernichtung mit einem Festakt feierte. Für sich verfasste er einen zweizeiligen Knittelvers:

Atombombe geht los, wenn man es ihr sagt.
Ah, welch grenzenlose Freude!“*

* Jung Chan, Mao, 632f.

Großes Ego, kleines Ich

Die Größe eines Menschen verhält sich umgekehrt proportional zur Größe seines Egos. Die Größe eines Egos ist oft ein zuverlässiges Indiz für ein kleines Ich.

Die eigene Position vertreten

Es ist die Grundvoraussetzung, um die eigene Position sinnvoll und erfolgreich vertreten zu können, dass man fähig ist, die Position des anderen zu sehen und sich in sie hineinzuversetzen. Für sich einzustehen bedeutet immer, sich gegen etwas zu setzen. In dem Maße, wie diese Negation klar und bestimmt ist, wird auch die Überzeugung, der man anhängt deutlich und kräftig. Wer sich nur um sich selbst dreht, kann daher keine eigene Position haben.

Ausgleichsüberschuss

Das Problem eines Gerechtigkeitsverständnisses, das auf der Grundlage des Ausgleichs, der Sühne, nicht zuletzt der Rache gebildet ist, zeigt sich, sobald ein Überbietungsprozess in Gang gesetzt wird, der sich kaum noch beenden lässt. Wo das Ungleichgewicht behoben werden soll durch ein ebensolches Gegenmaß, da genügt nicht allein die sachliche Entsprechung. Auch die persönliche Kränkung, der Schmerz durch die Verletzung, den Kürzeren gezogen zu haben, will ja befriedet sein. Was schließlich dazu führt, dass das Pendel nicht nur auf die andere Seite ausschlägt, sondern weit über die erwartete Grenze. Der Effekt? Es muss ein Ausgleich her. Und die unselige Geschichte beginnt von vorn. (Das ist die Crux einer Weltpolitik, die überall Ungerechtigkeit wittert.)

Selbstverständlich Streit

Konflikte sind immer ein Indiz dafür, dass es im Miteinander zu wenig Selbstverständliches gibt.

Nationale Negation

Es ist in der Welt laut geworden. Allzu viele schreien aus heiserer Kehle: Ich! Und meinen doch nicht dasselbe. Nur darin sind sich die Nationalisten aller Länder einig, in der schlichten Negation: Du nicht!

Vorläufig endgültig

Kurzformel des Lebens: das Vorläufige als das Endgültige anerkennen zu müssen.

Reziproke Großzügigkeit

Nur der verdient, großzügig genannt zu werden, der nicht darauf setzt, dass seine Freigebigkeit erwidert wird. Generosität ist die Suspension des do ut des.

Basiskurs Rhetorik

Wer kein Gespür für die Widersprüchlichkeit des Lebens hat, hat nichts zu sagen. Nichts sagen muss hingegen, wer dem schrecklichen Ideal Authentizität folgt und die Übereinstimmung mit sich selbst sucht. Da kommt nichts, was überrascht.

Im Überschwang

Im Überschwang verliert der Mut sich selbst. Er hat in Wahrheit eine viel größere Nähe zur Verzagtheit als zur Hybris. Als überwundene führt er die Erinnerung an sie immer mit und kennt seine Grenzen. Der Übermut hat vergessen, woher er stammt.

Da täuschst du dich

Unter den vielen fragwürdigen Erziehungsfolgen, die oft genug herhalten müssen für ebenso fragwürdige spätere Rechtfertigungen, gibt es mindestens diese eine zweifelsfreie: Wem selber in jungen Jahren dauernd gesagt wurde, dass er sich in den Dingen, die er meint, klar zu sehen, täusche, wird nicht selten als Erwachsener andere betrügen. Das zu klein geratene Ich wertet sich auf im Triumph, das Gegenüber hinters Licht geführt zu haben. (Eine Beobachtung für das Kapitel „Wenn Politik zu persönlich wird“)

Körper und Geist

Sagt das etwas aus über eine Rangordnung? Wenn der Körper erschöpft ist, muss das nicht auch den Geist ermüdet haben; im Gegenteil macht sich gelegentlich eine eigentümliche Frische im Kopf bemerklich, obwohl die Glieder schmerzen und die Muskeln nach Entspannung sich sehnen. Umgekehrt ist das nicht so.

Die alte Leier

Wer mit anderen zu lang sein Spiel treibt, muss sich nicht wundern, wenn dieses Spiel verdirbt. Gegner wie Partner stets neu zu erschrecken mit Drohungen, Forderungen, übermäßigen Beschränkungen und sie wenig später zurückzunehmen, als sei nichts gewesen, sorgt am Ende nur dafür, dass mit jeder Wiederholung die Wirkung nachlässt. Bis Wut über den ausbleibenden Effekt und Irrationalität die Selbstentmachtung zuverlässig einleiten. Dann wird es ernst.

Für andere

Es gibt Talente, die werden erst in dem Moment zu eigenen Fähigkeiten, wenn man sie für andere einsetzt.

Die Gesellschaft der Freiheit

Die beiden Grundbedingungen gesellschaftlicher Freiheit sind die Unabhängigkeit durch Geld und die Unbestechlichkeit des Rechts.

Friedenspolitik

Aus der Geschichte zu lernen heißt zu verstehen, dass der Friede nur gedeiht, wo das Selbstverständliche im Lebensalltag der Menschen regiert, aber am wenigsten selbstverständlich ist, dass der Friede herrscht.