Monat: April 2021

Negativ ist positiv

Wenn der allmorgendliche Selbsttest das selbstverständliche Maß der Selbstbespiegelung vorgäbe, dann könnte einer Gesellschaft, der das Ich und das Eigene wie kaum anderes wichtig ist, geholfen werden, über den Umweg der Selbstbeschau Vereinsamung und Vereinzelung zu überwinden. Nie war es sinnvoller, über sich genaue Kenntnis zu erhalten, als in einer Zeit, in der jeder dem anderen zum potentiellen Ansteckungsrisiko gereicht. Bevor einer fragt, wer er sei, klärt er zunächst, was er sei.

Ach, du liebes Ei

Kinder, beim Eiersuchen im Garten beobachtet: Der eine geht nach der Form; die andere zieht den Inhalt vor. Man darf angeregt mutmaßen, wofür sie sich als Erwachsene interessieren. Und ob hier nicht die Genialität einer gestaltgebenden Natur im Ei nicht schon als dessen wahres Wesen erkannt ist, das Schönheit nicht nur als äußerlich und den Schokoladengehalt kaum als inneren Wert vorstellt.

Frohe Ostern!

Osterglaube: die Verwandlung aller Hoffnungen, die zuletzt sterben, in die eine Hoffnung, die nicht mehr stirbt.

Nebenwirkungen

Man sollte Arzneien, deren Nebenwirkungen auf Dauer mehr beeindrucken als deren Haupteffekt, dessentwegen sie entwickelt wurden, vom Markt nehmen, so wie man Politiker auch nicht beachtet, deren Nebensätze verdecken, dass sie keine Hauptbotschaft haben.

Der schlimmste aller Bäume

Zu den Widersprüchen, die am Karfreitag gefeiert werden: Der Tag, an dem Gott sich hat hängen lassen – an den „schlimmste(n) aller Bäume“* – ist jener Moment, von dem an am Menschen nichts mehr hängen bleibt, weil alle Moral abprallt an dem, was theologisch „Rechtfertigung“ heißt. Der Tag, an dem Menschen in der Verurteilung und Kreuzigung eines Unschuldigen, ihre absolute Macht über Gott ausüben, ist jene Stunde, in der das Machtvollste im Leben, der Tod, seine Absolutheit verliert. Der Tag, auf den sich Luthers reformatorische Thesen gründen und eine weltumspannende Revolutionstheorie, (der „spekulative Karfreitag“ Hegels), ist jener Augenblick, an dem weder Gesellschaft noch Geistlichkeit große Worte machen, sondern Einzelne, das Individuum, sich ins brüchige Gebet einüben. Der Tag, an dem nach den alten Zeugnissen die Frage zur Beantwortung vorgelegt wurde, was ein Gott zu heißen verdiente, ist jener Zeitpunkt, in dem die Zeugen stellvertretend nur noch eines fragen: Wer bist du? Der Tag, an dem Absurdität und Widersinn, Paradoxie und Ungereimtheit sich ins Extreme zu steigern scheinen, verdichtet sich im Imperativ: Lasst euch versöhnen!

* Nietzsche, Also sprach Zarathustra III, 12

Tischgemeinschaft

Die Bildsprache vom gebrochenen Brot verrät noch die Gewalt, die in jedem Teilen steckt, das Intaktes zerstört, um ein anderes Ganzes aus diesem Riss wachsen zu lassen. Jede Gemeinschaft, nicht zuletzt die am Tisch, die sich aus einer Schüssel holt, was zum Verzehr auf den eigenen Teller kommt, von einem Stück abschneidet, eine Flasche entkorkt, die Frucht zerkleinert, die Kräuter zerhackt, bedient sich Formen von Kompromisslosigkeit, um die Zuwendung und Fürsorge im Miteinander auszudrücken. Man kann sich eine Gesellschaft von Egoisten vorstellen, in der jeder nur seinen eigenen Vorteil sucht. Dieser Zweck wäre das einzig Verbindende zwischen den Individuen. Aber es lässt sich keine Gemeinschaft denken, in der nicht die Absicht vorherrschte, mit anderen zu teilen. Im letzten Abendmahl, dessen Gedächtnis den Gründonnerstag bestimmt, wird die Teilhabe als extreme Weise eines Lebens vorgestellt, das auf sich verzichtet um der Lebensfähigkeit aller anderen willen. Die Zerbrechlichkeit erscheint hier unmittelbar als Bedingung der Partizipation. Man kann es übersetzen in die Einsicht, dass der Wille, mit anderen frei zu sein, einschließt, sich verwunden zu lassen.