Freud war ein Meister der Entdeckung all der Abwehrformen, über die die Seele als ein feindifferenziertes Ensemble verfügt, mit dessen Hilfe sie sich versteckt und wehrt: Verdichtung und Verschiebung im Traum, Verkehrung und Verleugnung von Realität, Verneinung und Versagung im Umgang mit Trieben und Wünschen, nicht zuletzt die Verurteilung. Diese Phänomene gehören zum Alltagsgeschehen, so systematisiert aber hatte sie niemand zuvor dargestellt. Das war der Anspruch des Entdeckers, wenn nicht Erfinders der Psychoanalyse, Neues gesehen und strukturiert zu haben. Freud war sich dessen bewusst; ja er symbolisierte die eigene Bedeutung, indem er die bahnbrechende „Traumdeutung“, die er im Jahr 1899 veröffentlichte, auf das zeichenhafte Publikationsdatum 1900 verschob. Ausgerechnet in den entscheidenden Gedanken dieses Hauptwerks aber schien er einen Vor-und Parallelläufer zu haben, der zu allem Überfluss nur ein paar Straßen weiter im selben Wiener Bezirk wohnte: Josef Popper, der unter dem Namen „Lynkeus“ schriftstellerisch tätig war und in seinen „Phantasien eines Realisten“, die im selben Jahr erschienen wie die „Traumdeutung“, verblüffend ähnliche Einsichten vorstellte. Freud wusste das. Aber er stellte sich dem zunächst nicht. Erst gut zwei Jahrzehnte später schrieb er: „Sorgfältige psychologische Untersuchung schränkt diesen Anspruch [auf wissenschaftliche Originalität] dann noch weiter ein. Sie deckt verborgene, längst vergessene Quellen auf, aus denen die Anregung der anscheinend originellen Ideen erflossen ist, und setzt an die Stelle der vermeintlichen Neuschöpfung eine Wiederbelebung des Vergessenen in der Anwendung auf einen neuen Stoff. Daran ist nichts zu bedauern; […] Auf solche Weise hat sich auch für meinen Fall die Originalität vieler neuer Gedanken, die ich in der Traumdeutung und in der Psychoanalyse verwendet hatte, verflüchtigt. Nur von einem dieser Gedanken kenne ich die Herkunft nicht. Er ist geradezu der Schlüssel meiner Auffassung des Traumes geworden und hat mir dazu verholfen, seine Rätsel zu lösen, soweit sie bis heute lösbar geworden sind. […] Gerade dieses wesentliche Stück [die Idee der Traumzensur] meiner Traumtheorie hat aber Popper-Lynkeus selbst gefunden.“* Es blieb nicht bei dieser Übereinstimmung. Auch die Behauptung, Moses sei ein Ägypter, die für Freud in seiner Studie „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“ zentral gewesen ist, findet sich schon bei Popper-Lynkeus. Da lassen sich die Ursprünge einer Idee nicht mehr ermitteln. „Kryptomnesie“ hat das Freud in einem Brief vom Oktober 1938 genannt. Die Analyse scheitert an dem Versuch, das Original zu finden. Doch macht es sich der Initiator der Psychoanalyse da nicht zu einfach? Es hätte ihn stören müssen. Denn das hat diese fast kriminalistische Form der Wissenschaft und Therapie mit der Aufklärung gemeinsam: eine Spur so lange zu verfolgen, bis sich eindeutig sagen lässt, wo sie beginnt. Der Begründer der entlarvten Seele trickst und zeigt, wie sehr er selber nicht frei ist vom Täuschungsansinnen eines Gemüts, das in allem darauf bedacht war, die Originalität seiner Heilungsmethode für sich zu reklamieren. Freud hatte, trotz der räumlichen Nähe, Josef Popper-Lynkeus nie besucht.
* Josef Popper-Lynkeus und die Theorie des Traumes, in: GW XIII, S. 357– 359, 357f.