Monat: September 2024

Vergebens

Traue keiner Vergebung, die nicht den Widerwillen des Zorns als Zähneknirschensrest in sich noch enthält.

Gemischtes Doppel

In der Tonhalle das Doppelkonzert gehört, die letzte Komposition von Brahms für Orchester mit Starbesetzung für Violine und Violoncello. Das gelingt nur, wenn zwei Solistinnen, die auch allein Säle zum begeisterten Toben bringen, sich einem größeren Ganzen verpflichten. So ist ein starkes Ego erträglich, als ein Ich, das sein eigenes Genie in den Dienst stellt eines Werks, an dem es seine und dessen Saiten bestens zum Klingen bringt. Du wirst groß, indem du andere und anderes groß machst. Das ist die Kunst.

Finanzkapitalismus

Aus einer Samstagnachmittagslektüre

„Souverän ist, wer eigene Risiken in Gefahren für andere zu verwandeln vermag und sich als Gläubiger letzter Instanz platziert.“*

* Joseph Vogl, Der Souveränitätseffekt, 251

Geschirrmuffel

Man kann sich die berühmte Unterscheidung des Chicagoer Soziologen David Riesman* zwischen dem innengeleiteten Menschen, der sich an selbstgewählten Maßstäben orientiert, und dem außengeleiteten Charakter, der den Einflüsterungen von Mode und Massenmedien blind folgt, deutlich machen am Umgang mit dem Abendgeschirr: Der eine lässt Teller und Gläser einfach stehen und räumt sie am nächsten Morgen in die Spülmaschine, weil seine Müdigkeit zum dominanten Handlungsantrieb geworden ist; der andere hingegen erträgt es nicht, die Unordnung tags drauf noch zu sehen, und muss die Sachen, trotz Erschöpfung, noch in den Apparat sortieren. Vielleicht ist dies die einzige Situation, in der das Chaos den höheren Typus repräsentiert.

* Die einsame Masse, 1950

Mord an der Originalität

Wie man Originalität verhindert: Die Lust auf Überraschung verschwindet zuverlässig, sobald sie verwandelt worden ist in ein Verfahren, das sich – wie in Innovationswettbewerben oder bei Drittmittelanträgen – detailliert zu legitimieren hat. Überhaupt ist erzwungene Prozesstreue die sicherste Methode, den Eigensinn und die Eigenständigkeit nur noch im Maß von Spurenelementen zu dulden.

Übernimm dich nicht

Übernehmen, das setzt voraus, dass jemand anderes etwas übergeben hat. Nur bei der Verantwortung wird diese Logik außer Kraft gesetzt. Wer Verantwortung für etwas übernimmt, zieht sich zurück, statt sich hineinziehen zu lassen. Dieser Schritt bedeutet ein Ende, obwohl sich die Formel liest, als gehe einer ein Engagement gerade erst ein. Hier wird übernommen, woran man sich zuvor übernommen hat. Schwierige Sache; schwere Sprache.

Short message

Für den Aphorismus gilt: Je kürzer der Satz, desto endgültiger sein Sinn.

Maßgebend

„Der Name des Geistes ist vom Messen hergenommen (nomen mentis a mensurando).“ So leitet Thomas von Aquin die zehnte der Fragen in seiner Abhandlung über Wahrheit* ein. Im Unterschied zum Verstand bestimmt er den Geist als das Maßgebende; geistlos heißt daher, wem nicht bekannt ist, dass alles eine innere Grenze hat, die sich oft allen erst zeigt, wenn sie überschritten worden ist. Maßlosigkeit ist eine Form der Geistlosigkeit.

Über die Wahrheit (übersetzt von Edith Stein), X.1, 308

Krisenkorsett

Ein sicheres Indiz von Krisen: Der Umfang der Themen wird kleiner; der Inhalt des Themas reicher.

Abschüssige Gespräche

Gespräche, die ein Gefälle aufbauen, entwickeln sich schnell unter der Hand zu Therapiesitzungen. Da hört einer zu, und der andere gibt Ratschläge. Oft ungefragt. Auch die Kommunikation ist ein, nur dürftig verstecktes Machtspiel.

Gleichheitszeichen

Nicht nur in der Mathematik, auch im Leben ist das Gleichheitszeichen ein Indiz dafür, dass die Bewegung der Reflexion, des Rechnens, des Miteinanders und Gegeneinanders aufhört. Wo das Ergebnis steht, wo die Differenzen bereinigt und der schlichtende Ausgleich hergestellt sind, da endet die Anstrengung. Nichts ist so langweilig wie ein Denken in Resultaten, nichts so ermüdend wie ein Zustand vollkommener Gerechtigkeit.

Möglicherweise

Eine Philosophie, die nicht nur den Sinn fürs Wirkliche hat, sondern auch Möglichkeitssinn besitzt, heißt Theologie.

Recht einfach

Es ist das Problem des Rechts, dass es alle künftigen Handlungen an allen vergangenen Handlungen misst und seine Grundsätze für jene aus den Erfahrungen mit diesen formuliert. Weil dieses schon passiert ist, soll jenes nicht mehr geschehen dürfen: So erlässt es immer mehr Regeln, die Ereignisse und Eventualitäten abzubilden versuchen. Das Recht, so sehr es dem Ideal der Eingängigkeit nacheifert, kann gar nicht einfach sein.

Tonlage

Woran sich erkennen lässt, ob ein Mensch Kultur hat? Wenn er jederzeit die Musik kennt, die in den Augenblick passt, oder er den Ton findet, der die gewünschte Atmosphäre schafft. Diese Bildung erschließt sich über das Ohr eher als über die anderen Sinne.

Die wahre Religion

Im Streit der Religionen ums Vorrecht gewinnt das Bekenntnis, das einleuchtend überzeugen kann, nicht aus einem Schuldgefühl erwachsen zu sein. Ob es eine Gottesgewissheit geben kann, der nicht Reue und Buße über ein tiefes Versäumnis vorangegangen ist? Oder verliert der Glaube seine Ernsthaftigkeit mit dem Verzicht auf eine Erinnerung an den fundamentalen Mangel des Menschen?

Wo sind die Gestalter?

Kommentatoren und Agitatoren, die einen reagieren, die anderen tun – und doch haben sie eines gemeinsam. Sie finden sich vor in der politisch zweiten Reihe und sind in ihrer wachsenden Zahl ein Phänomen fehlender Gestaltung. Dort, wo notwendiger Wandel beschlossene Sache sein könnte, mangelt es nicht selten an ihm, im Parlament. Und dennoch darf dieses sich das Vorrecht auf Veränderung nicht nehmen lassen von denen, die nur über sie reden, und jenen anderen, die sie erzwingen wollen. Eine Demokratie lebt davon, dass vor das Handeln das Aushandeln gesetzt ist.

Schöner schweigen

Die schönste Art, sich von einer unangenehmen, befremdlichen, erzwungenen Situation zu distanzieren, ist ein befreites Lachen. Es gibt keine Freiheit ohne Humor.

Durchs Megaphon der Medien

Auch das ist die Welt von social media: Sie ist das Gegenteil einer sozialen Welt in den Medien – als gäbe es keine Bürger mehr, sondern nur noch Wutbürger, keine Politiker mehr, sondern nur noch Populisten, keine Denker mehr, sondern nur noch Experten, keine Gesellschaft mehr, sondern nur noch Demoskopen, Wahlforscher, Soziologen, keinen Wandel mehr, sondern nur noch Krisen. Die Gegenwart sei zu komplex, heißt es, für einfache Lösungen. Das Einfache aber ist zu langweilig für die nervöse Welt.

Opferrolle

Sich selbst als Opfer zu stilisieren, ist die einfachste Form der Sinngebung einer missglückten Lebenslage. Sie entlastet von Verantwortung (Vergangenheit) und Veränderung (Zukunft). Und reduziert die Gegenwart aufs Passive. Der Satz „ich kann nichts dafür“ wird umgedeutet in die Handlungsverweigerung: Ich kann nichts tun.

Enttäuschungsfest

Aus einer Nachmittagslektüre

„Die Konservativen beginnen mit Enttäuschung, die Progressiven enden mit Enttäuschung, alle leiden an der Zeit und kommen darin überein. Die Krise wird allgemein.“*

* Niklas Luhmann, Protest. Systemtheorie und soziale Bewegungen, 91

Man ist unter sich

Politiker, Medienleute, Wissenschaftler, Fachidioten, Vorstände – man ist unter sich. Hier gilt die alte Regel: je mehr Selbstreferenz, desto stärker ist der Realitätsverlust.

Eine gemeinsame Sprache

In Beziehungen (unter Ehepartnern, zwischen Politikern und dem Wahlvolk, in Gesprächsrunden von Wissenschaftlern oder bei Sportmannschaften in der Kommunikation von Trainern mit Spielern) kriselt es immer dann, wenn keine gemeinsame Sprache mehr gefunden wird. Das bedeutet nicht, dass dieselben Begriffe gebraucht werden, sondern dass es möglich ist, trotz unterschiedlicher Wörter ein verbindendes Verständnis in der Sache zu erzielen.

Einfach mal den Mund halten

Zum Grundrecht auf Meinungsfreiheit gehört auch, frei von einer Meinung zu sein.

Karriereknick

So mancher Karriereknick ergibt sich erst, wenn der Aufstieg auf der Postenleiter sonderlich schnell und erfolgreich gelang. Dann ist nicht die berufliche Laufbahn brüchig geworden, aber das private Leben hat einen Knacks bekommen.