Die politisch Rechtsextremen lassen sich nicht entzaubern, weil sie noch nie bezaubert haben. Da ist nichts Magisches. Selbst das Blau, die Parteifarbe, ist dumpf. Es leuchtet nicht, hat keine Strahlkraft. Ihm fehlt alles, womit Blau sonst faszinieren kann. Wer aus dem Ressentiment heraus Stimmung macht für das Ressentiment, braucht keine Argumente, nur Anwürfe. Er ist ins Misslingen so sehr verliebt, um es auszuschlachten, dass ihn ein Wahlerfolg in Wahrheit irritieren müsste. Eigentlich müsste dieser ihn beleidigen; denn jede Stimme für den rechten Rand in der Politik führt ihm vor, dass wider alle Behauptungen es noch immer möglich ist, seine Stimme zu erheben und zu sagen, was man denkt. Apropos Beleidigen: Auffälliger noch als sein ständiges Beleidigen des Gegners ist sein Beleidigtsein. Mit ihm zeigt er seine ganze Verachtung der parlamentarischen Demokratie, will sie doch seine Talente, die er zu ihrer Rettung anbietet, nicht in Anspruch nehmen. Glückt etwas, kommt nie Freude auf, sondern immer Schadenfreude, weil seine Engstirnigkeit das Glück nur zweidimensional als Gegenteil von Unglück sieht. Seine Logik kennt nur eine Regel: wenn die anderen verlieren, hat er gewonnen.
Monat: August 2024
Der Osten wählt
Am Wochenende entscheiden Menschen in Ostdeutschland, ob sie den Schlechtgelaunten die Macht überlassen wollen. Das ist der wahre Ernst dieser Richtungswahl. Eine Politik, die keinen Spaß versteht, mündet in Gewalt.
Faltenreich
In manchen Gesichtern hinterlässt das ungelebte Leben deutlich tiefere Spuren als das gelebte.
Was geht?
Zum 275. Geburtstag Goethes
„Jede Lösung eines Problems ist ein neues Problem.“*
* Gespräch mit Friedrich von Müller am 8. Juni 1821
Verständig und vernünftig
Man kann Verstand und Vernunft, die beiden Talente des Bewusstseins, klar unterscheiden in ihrem Verhältnis zur Zeit: Verständig ist, wer sich der Vergangenheit analytisch zuwendet und strukturiert erklären kann, was (schon) ist. Als vernünftig gilt, wer sich auf die Zukunft antizipativ bezieht und sich deutlich vorstellen kann, was (noch) kommt.
Eingeständnis
Es ist schlechter Stil in der Politik, Fehler korrigieren zu wollen, ohne sie vorher eingestanden zu haben. So verbessert einer vielleicht die Lage; aber er befördert auch den Eindruck von Verantwortungslosigkeit, Gelegenheitsgünstlingswirtschaft und Feigheit. Das Bekenntnis, geirrt zu haben, ist oft werthaltiger als die Beseitigung des Missgriffs. Wo die empfindlichste Errungenschaft einer Demokratie berührt ist, nämlich dass Freiheit und Sicherheit nicht gegeneinander ausgespielt werden müssen, ist beides Pflicht: Selbstkritik und Veränderung.
Teilen und Aussuchen
Aus einer Sonntagslektüre
„Die Frage: Wie gehen wir miteinander um? ist eine der grundlegendsten und ältesten. Denn überall, wo Menschen zusammenleben, gibt es Konflikte und Streit. Das fängt auf dem Spielplatz an, geht weiter auf dem Schulhof und setzt sich fort im Betrieb, wo das Arbeitsklima oft durch Machtstrukturen, Ehrgeiz, Neid, Missgunst und Gewinnsucht geprägt ist. Jeder will etwas anderes und möchte es gerne durchsetzen. Ungleichheiten verstärken sich, die Wortführer bringen die anderen zum Schweigen, die Stärkeren unterdrücken die Schwächeren. Solche gruppendynamischen Prozesse stellen sich immer wieder ein, auch in der Familie unter den Geschwistern. Deshalb haben sich hier allgemeine Regeln ausgebildet, die das Recht des Stärkeren einschränken. Dazu gehört zum Beispiel eine einfache Faustregel, nach der gehandelt wird, wenn es unter den Geschwistern etwas zu verteilen gibt. Sie lautet: Der eine teilt, der andere sucht aus. Auf diese Weise sind alle zufrieden und niemand muss sich benachteiligt fühlen. Es ist immer gut, wenn nicht nur einer bestimmt. Das ist ja auch die Grundidee der Demokratie. In dieser ebenso schlichten wie genialen Regel steckt schon das wichtige Prinzip der Gewaltenteilung, das den Kern der Demokratie ausmacht und dem Rechtsstaat zugrunde liegt.“*
* Aleida Assmann, Menschenrechte und Menschenpflichten, 26
Die Frage, die die Technik begleitet
Mit jeder technischen Neuerung stellt sich die Frage: Schaffen wir zu beherrschen, was wir gerade geschaffen haben? Die Antwort reicht weit hinaus über das Talent, eine Gebrauchsanleitung zu verstehen.
Begeisterung
Was ist Begeisterung: die Ahnung, dass der Optimismus epidemisch werden könnte.
Lebensformel
Man könnte die Anstrengungen des Lebens leicht auf eine einzige Formel bringen: möglichst lang vermisst zu werden, wenn man dereinst nicht mehr da ist.
Feste Freunde
Es ist Unsinn, nach dem Zweck zu suchen, den Gespräche mit Freunden haben. Und dennoch erfüllen sie zuverlässig einen Sinn: Sie schützen vor den Entmutigungen, mit denen das Leben sich selbst talentiert behindert.
Der Gewinn des Lächelns
Wenn Lachen zum Lächeln wird, verkleinert sich nur der Gesichtsausdruck. Sein Bedeutungsreichtum indes wächst immens, vom gewinnenden Strahlen übers Schmunzeln, dem feinen Spott, der lautlosen Zustimmung oder Verlegenheit bis zur kaschierten Trauer. Die Verringerung physiognomischer Eindeutigkeit schafft Raum für die Vielfalt psychologischer Interpretation.
Reisesüchtig
Reisen ist wie eine Sucht. Je öfter die Orte gewechselt haben, je weiter die Ziele schon gesteckt wurden, desto weniger locken die neuen Umgebungen. Nicht dass man alles schon gesehen hat, aber zu allem fällt einem irgendetwas ein, was anderswo ähnlich vorkommt. Langeweile setzt ein schon im Moment, da man weiß, wieder fortzumüssen. Sie zu vertreiben, ist die Funktion elender Steigerungen: noch höher hinaus, noch abenteuerlustiger, noch luxuriöser oder schlichter, noch, noch, noch … Bis es am Ende nichts Reizvolleres gibt als das eigene Zuhause, in dem man all den Interessierten erzählen kann, wie schön es andernorts ist.
Kein Kavaliersdelikt
Ähnlich wie die Fahrerflucht, die sich um die selbstverursachten Beulen im Blech nicht schert, wirkt die Gesprächsflucht. Auch da kümmert sich der, der mit seinen Worten Schäden verantwortlich ausgelöst hat, nicht um die Folgen seiner Handlungen. Er verschwindet einfach aus dem gerade noch vertrauten Dialog und hinterlässt mit seiner Wortlosigkeit nicht selten Ratlosigkeit, Verletztheit, das Gefühl von missbräuchlichem Ausgenutztsein. Im Verkehrsrecht gilt das unerlaubte Entfernen vom Unfallort als Straftat, es ist kein Kavaliersdelikt. Nicht einmal moralisch geächtet hingegen wird, wer sich feige davonmacht aus einem bedeutsamen Austausch.
Kryptomnesie
Freud war ein Meister der Entdeckung all der Abwehrformen, über die die Seele als ein feindifferenziertes Ensemble verfügt, mit dessen Hilfe sie sich versteckt und wehrt: Verdichtung und Verschiebung im Traum, Verkehrung und Verleugnung von Realität, Verneinung und Versagung im Umgang mit Trieben und Wünschen, nicht zuletzt die Verurteilung. Diese Phänomene gehören zum Alltagsgeschehen, so systematisiert aber hatte sie niemand zuvor dargestellt. Das war der Anspruch des Entdeckers, wenn nicht Erfinders der Psychoanalyse, Neues gesehen und strukturiert zu haben. Freud war sich dessen bewusst; ja er symbolisierte die eigene Bedeutung, indem er die bahnbrechende „Traumdeutung“, die er im Jahr 1899 veröffentlichte, auf das zeichenhafte Publikationsdatum 1900 verschob. Ausgerechnet in den entscheidenden Gedanken dieses Hauptwerks aber schien er einen Vor-und Parallelläufer zu haben, der zu allem Überfluss nur ein paar Straßen weiter im selben Wiener Bezirk wohnte: Josef Popper, der unter dem Namen „Lynkeus“ schriftstellerisch tätig war und in seinen „Phantasien eines Realisten“, die im selben Jahr erschienen wie die „Traumdeutung“, verblüffend ähnliche Einsichten vorstellte. Freud wusste das. Aber er stellte sich dem zunächst nicht. Erst gut zwei Jahrzehnte später schrieb er: „Sorgfältige psychologische Untersuchung schränkt diesen Anspruch [auf wissenschaftliche Originalität] dann noch weiter ein. Sie deckt verborgene, längst vergessene Quellen auf, aus denen die Anregung der anscheinend originellen Ideen erflossen ist, und setzt an die Stelle der vermeintlichen Neuschöpfung eine Wiederbelebung des Vergessenen in der Anwendung auf einen neuen Stoff. Daran ist nichts zu bedauern; […] Auf solche Weise hat sich auch für meinen Fall die Originalität vieler neuer Gedanken, die ich in der Traumdeutung und in der Psychoanalyse verwendet hatte, verflüchtigt. Nur von einem dieser Gedanken kenne ich die Herkunft nicht. Er ist geradezu der Schlüssel meiner Auffassung des Traumes geworden und hat mir dazu verholfen, seine Rätsel zu lösen, soweit sie bis heute lösbar geworden sind. […] Gerade dieses wesentliche Stück [die Idee der Traumzensur] meiner Traumtheorie hat aber Popper-Lynkeus selbst gefunden.“* Es blieb nicht bei dieser Übereinstimmung. Auch die Behauptung, Moses sei ein Ägypter, die für Freud in seiner Studie „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“ zentral gewesen ist, findet sich schon bei Popper-Lynkeus. Da lassen sich die Ursprünge einer Idee nicht mehr ermitteln. „Kryptomnesie“ hat das Freud in einem Brief vom Oktober 1938 genannt. Die Analyse scheitert an dem Versuch, das Original zu finden. Doch macht es sich der Initiator der Psychoanalyse da nicht zu einfach? Es hätte ihn stören müssen. Denn das hat diese fast kriminalistische Form der Wissenschaft und Therapie mit der Aufklärung gemeinsam: eine Spur so lange zu verfolgen, bis sich eindeutig sagen lässt, wo sie beginnt. Der Begründer der entlarvten Seele trickst und zeigt, wie sehr er selber nicht frei ist vom Täuschungsansinnen eines Gemüts, das in allem darauf bedacht war, die Originalität seiner Heilungsmethode für sich zu reklamieren. Freud hatte, trotz der räumlichen Nähe, Josef Popper-Lynkeus nie besucht.
* Josef Popper-Lynkeus und die Theorie des Traumes, in: GW XIII, S. 357– 359, 357f.
Falsches Leben
Verantwortlich für jede Form der Unlebendigkeit ist vor allem eines: die Angst, falsch zu leben. Aber: Es gibt kein richtiges Leben ohne ein falsches.* Das nennt man lebendig sein.
* Zur Ergänzung von Adornos berühmtem Diktum: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ – Minima Moralia, Nr. 18
Ich, wer sonst?!
Je stärker das Bedürfnis nach Selbstinszenierung und Selbstbestätigung, desto geringer das Interesse an Wahrheit. Man könnte diese Regel nennen: das Gesetz von der umgekehrten Proportionalität zwischen Ich und Welt. Für den Narzissten sind Fakten vor allem das, was ihn hindert, sein Ego unbezweifelt als vollkommen darzustellen. So wird die Wirklichkeit zum Feind der eigenen Herrlichkeit. Und die Lüge zu ihrem Medium.
Markttherapie
Was der Markt in der Wirtschaft, leistet die Psychotherapie für die Seele: den Wiedergewinn eines realitätsnahen Verhaltens.
Gemaßregelte Regeln
Wie die vernünftige Erziehung nur ein einziges Ziel hat: Menschen sich bilden zu lassen, die nicht mehr erzogen werden müssen, so könnte es auch eine Klasse von Regeln geben in der Politik, die letztlich danach streben, sich selbst aufzuheben. Es wäre eines der besten Mittel wider den sich überhebenden und überbordenden Dirigismus in Europa. Mit dem Erlass eines Gesetzes wird zugleich dessen Auslaufdatum mitgenannt (oder wenigstens die Bedingungen, unter denen es seine Geltung verliert).
Ach so, ein Philosoph
Philosoph, das ist die Bezeichnung für einen Menschen, dessen Unverständlichkeit auf Verständnis trifft.
Fanal zum Finale
Das ist die Kunst großer Abschiede: dass die Ankündigung von Neuem in gleichem Maße schmerzt wie tröstet.
Nichts geht mehr
Ein Baukran ist auf die Schienen gekippt. Die Fernzüge erreichen den Hauptbahnhof nicht mehr, die Hauptstrecke ist gesperrt. Zum Glück gibt es die bekannte Nebenstation, gut ausgelastet allerdings durch Fußballfans, die das erste Heimspiel des Lieblingsvereins in der Stadt sehen wollen, die sich weltoffen und töricht Tor zur Welt nennt. Nach und nach treffen vollbesetzte Bahnen ein, die die City nicht mehr anfahren können. Kein Durchkommen zum Ausgang, kein freier Weg zum anderen Gleis, auf das der Zug gleich einfährt, der mit einer guten Stunde Verspätung die Rettung aus dem Chaos sein soll. Panik kommt auf in der stickigen Halle. Die Polizei hat die Situation nicht wirklich im Griff, versucht, zaghaft zu steuern, was als Masse verdichtet drängt. Da hinein platzt die Nachricht eines kurzfristigen Gleiswechsels, der für Entspannung im Fernverkehr sorgen soll. Und die Lage brenzlig werden lässt. Viele derer, die gerade noch sich der Menge angeschlossen haben, in eine Richtung schieben, drehen sich um und wollen zurück. Die ersten Hilferufe und wütenden Schreie übertönen das Gebrabbel der Vielen. Jetzt geht wirklich nichts mehr. Alles steht. Auch die Züge. Immer mehr Menschen suchen verzweifelt nach Wegen und Auswegen, Gängen und Ausgängen. Es ist verzwickt. Nur eine Änderung, eine neue Information, der Gleiswechsel, sorgt dafür, dass Unübersichtlichkeit sich steigert zu Undurchdringlichkeit. So ist Komplexität. Je vielschichtiger ein Zustand, desto schwieriger wird es, ihn mit Vernunft zu bewältigen. Die gute Absicht verschärft das Chaos. Es ist ein Sinnbild dessen, was wir Moderne nennen.
Asyl
Aus einer Freitagabendlektüre
„Die Verquickung des Asylrechts mit Fragen der Ein- und Auswanderung hat fatale Folgen. Durch die sozialpolitische Ausdehnung, die der Asylbegriff erfahren hat, ist die Konfusion noch größer geworden. Es ist nicht einzusehen, warum Einwanderer mit gestürzten Diktatoren und flüchtigen Verbrechern oder mit Alkoholikern und Landstreichern gleichgesetzt werden sollten. Auf diese Weise ist der ,Asylant‘ zum diskriminierenden, negativ aufgeladenen Kampfbegriff geworden.
Die absichtsvoll herbeigeführte Verwechslung rächt sich aber an denen, die sie praktizieren. Es widerspricht nämlich dem Grundgedanken des Asyls, die Guten von den Schlechten zu trennen, nach dem Motto: Wer ein ,echter‘ Asylsuchender ist, entscheide ich.
Das ist im übrigen selbst beim besten Willen, der allerdings kaum vorausgesetzt werden kann, nicht möglich. Die Unterscheidung zwischen Wirtschaftsflüchtlingen und politisch Verfolgten ist für viele Herkunftsländer zum Anachronismus geworden. Ein Rechtsstaat, der sie treffen will, muss sich blamieren, denn es wird immer schwerer zu bestreiten, dass die Verelendung ganzer Kontinente politische Ursachen hat, wobei sich endogene und exogene Faktoren nicht mehr säuberlich unterscheiden lassen. Schließlich wird der diffuse Weltbürgerkrieg zwischen Gewinnern und Verlierern nicht nur mit Bomben und Maschinenpistolen ausgetragen. Korruption, Verschuldung, Kapitalflucht, Hyperinflation, Ausbeutung, ökologische Katastrophen, religiöser Fanatismus und schlichte Unfähigkeit können einen Grad erreichen, der ebenso massive Fluchtgründe abgibt wie die direkte Drohung mit Gefängnis, Folter oder Erschießung. Schon allein daran müssen alle administrativen Verfahren scheitern, die darauf abzielen, den einwandfreien vom missbräuchlichen Asylsuchenden zu unterscheiden.“*
* Hans Magnus Enzensberger, Versuche über den Unfrieden, 41f.
Dabei sein ist nicht alles
Wer Höchstleistungen erreichen will, muss sein eigenes Potential auf die Alternative zutreiben von Alles oder Nichts. Auch wenn er mit einer Medaille geadelt wird, ist der zweite Platz vor diesem Anspruch die absolute Niederlage.