Die klügere Position in einer politischen Debatte ist nie, den Gegner lächerlich zu machen. Sondern ihm die Voraussetzungen zu schaffen, dass er sich selber lächerlich macht. – Weird, komisch oder seltsam, so kämen ihr die Kandidaten der Republikaner vor, sagt Kamala Harris im Wahlkampf um das Präsidentenamt. Das ist die rhetorische Falle, aus der Trump nicht mehr herausfinden wird. Sie spricht aus, was zu sehen ist und viele ohnehin gedacht haben. Er kann nun machen, was er will. Das Etikett wird er nicht mehr los.
Monat: Juli 2024
Rechter Gesichtsrand
In der sächsischen Großstadt gibt es kaum noch einen Laternenpfahl, an dem nicht ein Gesicht gezeigt wird, das um Vertrauen wirbt im Wahlkampf vor der politischen Richtungsentscheidung Anfang September. Da ist der optimistische Ministerpräsident oder die investitionsfreudige ehemalige Arbeiterpartei, die um die Bürgergunst ringen. Alle strahlen Zuversicht aus. Alle? Nein, eine Gruppierung fehlt: die Rechtsextremen. Nirgendwo findet sich ein Hinweis. Das ist verblüffend angesichts der Popularität der Populisten. Sind sie sich ihres Sieges schon so sicher, dass sie meinen, es nicht mehr nötig zu haben, Plakate zu kleben? Oder fürchten sie, es könnte das Gesicht mehr verraten, als ihnen lieb ist zum jetzigen Zeitpunkt? In einem Aufsatz über den autoritären Staat hat Max Horkheimer schon 1940 diagnostisch scharf diesen Typus Politiker beschrieben, der sich heute wieder anschickt, mit der Macht zu paktieren: „Es wird sich zeigen, dass die bornierten und verschlagenen Wesen, die heute auf menschliche Namen hören, bloße Fratzen sind, bösartige Charaktermasken, hinter denen eine bessere Möglichkeit verkommt. Sie zu durchdringen muss die Vorstellung eine Kraft besitzen, die ihr freilich der Faschismus entzogen hat.“*
* Max Horkheimer, Autoritärer Staat, in: Gesammelter Schriften 5, 317
Zu Besuch
Gast ist der Fremde, der es auch dann bleibt, wenn ihm ein Zuhause zeitweilig gewährt wird. Die Gastfreundschaft nimmt dem Fremden das Befremdliche hier und das Befremden dort.
Das Spiel verdirbt
Der Narzisst ist ein Spieler. Er sucht Mitspieler, Menschen, mit denen er spielen kann. Er spielt genau so lange mit ihnen, wie sie nicht mit ihm spielen. Ändert sich das, kann er ihnen übel mitspielen; in jedem Fall wird er aber dann zum Spielverderber.
Kunstfreiheit
Gelegentlich wird im Namen der Kunstfreiheit gezeigt, was vor allem frei ist von Kunst. Zu sehen bleibt eine Arbeit, die – zwar nicht Werk, aber – nicht anders zu nennen ist als geschmacklos und dürftig im Stil.
Behördengänge
Aus einer Freitagnachmittagslektüre
„Wer in der Behörde umherirrt, macht die Erfahrung, dass das gesuchte Gegenüber in einem Nebel obskurer Instanzen verschwimmt. Keine zuständige Stelle lässt sich finden, die nicht auf eine höhere, kaum erreichbare verwiese. Hier ist jenes Man ,zu Hause‘, von dem Heidegger, beinahe gleichzeitig mit Kafkas Phänomenologie des Behördengangs, in Sein und Zeit (1927) notierte: ,Jeder ist der andere und keiner er selbst.‘ Es ist Kafkas Entdeckung, dass zum Man noch ein Über-Man gehört. Wer an dieses sich wendet, wird erfahren, dass es etwas Vergeblicheres gibt als das Gebet zum bedeckten Himmel, etwas Unerreichbareres als ein Sachbearbeiter unterer Stufe.“*
* Peter Sloterdijk, Wer noch kein Grau gedacht hat. Eine Farbenlehre, 61
Fernsicht
Der Horizont ist die Grenzlinie, an der die Anschauung in den Begriff übergeht. Was gerade noch zu sehen ist, bildet den Ausgangspunkt für das, was wir uns noch hinzudenken können. Nicht der Blick, aber das innere Auge reicht stets über den Horizont hinaus.
Sehr praktisch
In der Ästhetik bedeutet der Satz: „… aber es ist praktisch“ so viel wie – hässlich.
In der Ethik heißt: „… aber es ist praktisch“ – so soll es sein.
In der Logik meint: „… aber es ist praktisch“ – zwar nicht schlüssig, dennoch nützlich.
Bestellvorgang
Das Management bestellt bei den Beratern Analysen und Argumente wider den üblichen Tagesbetrieb, um bei guter Gelegenheit sich entweder dahinter verstecken zu können, wenn Entscheidungen zu verantworten sind, oder um sie bedauernd zu ignorieren. Nur eine Aufgabe erfüllen die Berater höchst selten: Rat so zu geben, dass er angenommen werden kann und sinnvolle Veränderungen bewirkt.
Wie viel hast du gelebt?
Das Maß des gelebten Lebens verringert nicht das des ungelebten. Dieses bleibt immer bei hundert Prozent; da mag einer noch so viele Erfahrungen gesammelt haben.
Auf ein Neues
Wie gut ein Neuanfang gelingt, lässt sich ermessen aus dem Schmerz über das, was für ihn aufgegeben worden ist.
Amt und Person
Die wichtigste Voraussetzung, ein berufliches Ende stilvoll zu gestalten, ist die Einsicht in die Bedeutung der Aufgabe. Alles kommt darauf an zu verstehen, dass die meisten Ämter zwar nicht größer sind als die Person, aber langlebiger. Beide Kandidaten für die Präsidentschaftswahl in Amerika haben da Ähnlichkeiten: der eine fühlt sich schon als Sieger, weil er sich selbst für so viel geschätzter hält, dass die angestrebte Position ihm zwingend, ja fast ewig zugestanden werden müsse; der andere wiederum klammert sich verzweifelt an die Überzeugung, dass er der einzige sei, der den Konkurrenten von der absolutistischen Machtergreifung abhalten könne. Hier wie dort stellt sich die Person über das, in diesem Fall auch noch: höchste Amt. Es wäre diesem angemessen, noch eine dritte Bewerbung zu finden, die der Würde des Amts den Vorrang einräumt.
Gastrecht und Besuchsrecht
Im dritten Definitivartikel zum ewigen Frieden nennt Kant die Grundbedingungen für das, was heute, gelegentlich euphemistisch, Globalisierung heißt. Sie sind nicht geregelt durch Formen der Menschlichkeit (also Sympathie, Mitleid, ja Gerechtigkeitgefühle), sondern durch deren Versachlichung im Recht. Es bestimmt sich durch seine Fähigkeit, klare Grenzen zu ziehen. „Es ist hier, wie in den vorigen Artikeln, nicht von Philanthropie, sondern vom Recht die Rede, und da bedeutet Hospitalität (Wirtbarkeit) das Recht eines Fremdlings, seiner Ankunft auf dem Boden eines andern wegen, von diesem nicht feindselig behandelt zu werden. Dieser kann ihn abweisen, wenn es ohne seinen Untergang geschehen kann; so lange er aber auf seinem Platz sich friedlich verhält, ihm nicht feindlich begegnen. Es ist kein Gastrecht, worauf dieser Anspruch machen kann (wozu ein besonderer wohltätiger Vertrag erfordert werden würde, ihn auf eine gewisse Zeit zum Hausgenossen zu machen), sondern ein Besuchsrecht, welches allen Menschen zusteht, sich zur Gesellschaft anzubieten, vermöge des Rechts des gemeinschaftlichen Besitzes der Oberfläche der Erde, auf der, als Kugelfläche, sie sich nicht ins Unendliche zerstreuen können, sondern endlich sich doch neben einander dulden zu müssen, ursprünglich aber niemand an einem Orte der Erde zu sein mehr Recht hat, als der andere.“*
*Kant, Zum ewigen Frieden, 39f.
Nichts als Standards
Der Standard der Bürokratie hat einen Namen. Er heißt Mittelmaß.
Ordentlich
Der Sinn von Ordnung: Man muss nicht nachdenken. Das gilt auch für die Ordnungen des Denkens. Sie sorgen dafür, dass es funktioniert, was so viel heißt, dass es nicht nötig ist, auf es selbst zu reflektieren. Niemals ordentlich hingegen ist Nachdenklichkeit. Sie leistet sich Abschweifungen, Verzögerungen und Verirrungen, Innehalten wie Tiefe, Assoziationen statt Argumentation, Sprünge oder Verspieltheit.
Achtung, Ansteckungsgefahr
Eine nicht zu unterschätzende Wirkung des Populismus, nicht zuletzt aller Arten von Einflussnahme, die mit den niederen Regungen von uns Menschen operieren, ist ihre infektiöse Kraft. Nicht dass sich Gegner und Verächter einfach anstecken ließen, aber sie handeln nicht selten im Willen, gegen Hass oder Gewalt, Niedertracht und Verleumdung vorzugehen, selber strukturähnlich. Und machen verächtlich, was ihnen an der Verachtung widerstrebt. Es ist die subtilste Bestätigung, die eine Haltung bekommen kann, welche gerade konsequent bekämpft werden sollte. Man kann die Aufhetzer und Aufrührer nicht mit ihren eigenen Mitteln schlagen.
Das Talent zur Freundschaft
Die Freundschaft unterscheidet sich von allen anderen Formen sozialer Beziehung dadurch, dass ihr Gelingen abhängt von einem besonderen Talent. Schon deswegen verdient sie, ein Geschenk genannt zu werden.
Nicht ich, die anderen
Aus einer Sonntagslektüre
„Die Begegnung mit dem Anderen ist von Anfang an Verantwortung für ihn. Die Verantwortung für den Nächsten ist zweifellos ein ernsterer Ausdruck für das, was man Nächstenliebe nennt, Liebe ohne Eros, caritas, Liebe, in der das ethische Moment das leidenschaftliche dominiert, Liebe ohne Begehrlichkeit. Das Wort »Liebe« mag ich nicht so sehr, es ist so abgegriffen und mißbraucht. Lassen Sie uns von einem Aufsichnehmen des anderen Schicksals sprechen.“*
* Emmanuel Lévinas, Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen, 132
Die eigene Haut
Bei jeder Selbstrechtfertigung, die sich gegen unberechtigte Anwürfe wehrt, bleibt ein Makel. Er rührt daher, dass nie klar wird, ob die vorgebrachten Gründe, so zwingend sie erscheinen, nicht vor allem dazu dienen, die eigene Haut zu retten. Zur sachlichen Erklärung lässt sich stets ein persönliches Interesse hinzufügen. Da spielt keine Rolle, ob es überhaupt Motive dieser Art gibt. Nichts ist einfacher, als einen Menschen zu diskreditieren, der sich standhaft, ja belastbar und stichhaltig gegen die Verunglimpfung stemmt. Es genügt die Annahme: Kein Wunder; er muss ja dagegenhalten. Und schon verlieren die Widerworte durch einen angenommenen Hintergedanken ihre Kraft. Selten dass sich einer von einem gewichtigen argumentum ad hominem erholt hat.
Nichts zu suchen
Wer sucht, der findet – manchmal den Grund, dessentwegen das Suchen nicht lohnt.
Aus der Bahn geworfen
Im ICE funktioniert nur eine einzige Toilette. Aber die lückenlose Kontrolle der Tickets. Der Fahrgast beschwert sich, dass er den vollen Preis bezahlt, selten aber das volle Angebot erhält. Und ruft auf zum Widerstand. So laut, dass die Sitznachbarn sich einschalten. Es beginnt eine Diskussion mit der Zugbegleiterin über Qualitätsmängel, Unzuverlässigkeit, Systemausfälle. Jeder hat eine andere Geschichte; alle vereint der Zorn auf das Unternehmen. Am Ende hat sich die Schaffnerin mit den Reisenden solidarisiert. „Wissen Sie, was ich machen werde, wenn Sie die Fahrkarten nicht mehr bezahlen. Ich werde Sie weiterfahren lassen. Denn Sie haben recht, auch wenn es nicht rechtens wäre.“ Die kleine Gruppe schweigt. Nur einer kommentiert leise: „Sieht so aus, als sei die Bahn gerade selber aus der Bahn geraten. Es lebe die Revolution.“
Kaffee oder Tee?
Die Qualität eines Hotels lässt sich ablesen, – weniger an dem, was auf der Abendkarte angeboten wird, als – an der Art des Frühstücks. Viel spricht gegen ein Haus, wenn nicht dieselbe Sorg- und Vielfalt, die das Menü zu fortgeschrittener Stunde auszeichnet, wiederzufinden ist in der Auswahl des Buffets am Morgen. Was nützt die Schnitte vom Norweger Lachs mit Burgunderschaum und Artischocken-Lauchgemüse, die das Restaurant dem Gast zum Dinner wortreich offeriert, wenn der Brotkorb nach dem Aufstehen nur die einfachsten Wecken zum Aufbacken aufweist, der Obstsalat bizzelt und sonst nur der übliche Kochschinkenersatz mit Scheiben vom Emmentaler kombiniert werden kann, dazu ein Croissant vom Discounter mit Erdbeermarmelade. Im deutschen Frühstück hat sich die gesamte Lieblosigkeit, zu der ein Herbergsbetrieb hierzulande fähig ist, ein unbestechliches Zeugnis seiner Gastfeindlichkeit gegeben.
Durch die rosarote Brille
Auch so lässt sich Werbung beschreiben: sie ist das größte Präsent, das einer Überflussgesellschaft gemacht werden kann. Sie schenkt ihr Bedürfnisse.
Weitblick
Die Faszination, so weit blicken zu können, dass sich das Auge verliert, hat mit einer Entlastung zu tun, die mit der Horizontsicht stets einhergeht: mit der Auflösung der Realität ins so Unpräzise, dass sie alles Bedrängende verliert und die Grenze zur Traumwelt berührt. Weil man sich angesichts der Ferne viel denken kann, muss man sich gar nichts denken; es ist ja (noch) zu weit weg. Der Wanderer, der vom Gipfel ins Ungemessene schaut, der Meeresgast, der übers Wasser seinen Blick schweifen lässt, bis dieser den Unterschied zum Firmament kaum mehr auszumachen vermag, sie erfahren beide die Freiheit, die darin liegt, es nicht so genau bestimmen und wissen zu können. Es ist deren unangestrengteste Variante: die Freiheit der Ignoranz.