Staat ohne Einsicht

Die Kritik ist wie die moderne Demokratie ein Kind der Aufklärung. Eine offene Gesellschaft wird sich selbst zum Feind, wenn sie sich verschließt gegenüber jener Art von Einreden, die Grundsätzliches sinnvoll in Frage stellt. Ihr genügen zur Verteidigung von Legitimitätsansprüchen alle Formen der Selbstbehauptung, die sich im argumentativen Streit bewährt haben. Ein Staat, der nicht versteht, dass Kritik und Krise nicht nur einen gemeinsamen Wortstamm haben, sondern vor allem auf Unterscheidungsvermögen und Urteilsfähigkeit zielen, der also Differenziertheit und Entschiedenheit hier wie dort vermissen lässt, gefährdet sich ohne Not selbst. Seltsam, dass vor allem die westlichen Demokratien diese beiden aufklärerischen Errungenschaften gerade dann vermissen lassen, wenn sie unbedingt gebraucht werden, und in der Krise, die Unterschiede deutlich bestimmt wie selten sonst, Kritik, die nach Unterschieden hartnäckig sucht, sträflich ignoriert. Schlimmer noch als die Dominanz einer allenthalben versagenden Verwaltungsstruktur* ist die Ignoranz, die diesen Misstand, wo sie ihn überhaupt zur Kenntnis nimmt, mit fadenscheinigen Einlassungen oder schlichter Autorität politisch schönredet.

* Der Göttinger Geschichtswissenschaftler und Sinologe Dominic Sachsenmaier hat in der FAZ einen sehr präzisen und lehrreichen Vergleich zwischen den westlichen Demokratien und den Staaten in Südostasien gezogen, der deren Überlegenheit bei der Bewältigung der Pandemie nicht auf spezifische politische Systeme zurückführt, sondern auf Offenheit und Einsichtsfähigkeit, nicht zuletzt gegenüber den Vorteilen digitaler Technik.