In vielen Fällen ist die Vorstellung von Gerechtigkeit pragmatisch durchsetzt mit Arten des Ausgleichs. Wo hier eine Differenz schmerzlich empfunden wird, soll ihr dort wenigstens so Genüge getan sein, dass das Umgekehrte gilt. Do ut des, die römische Rechtsformel rechnet mit Gegengeschäft. Der alttestamentarische Tun-Ergehen-Zusammenhang achtet auf die Folgen einer Handlung, die schädlich sein können in dem Maße, wie Schlechtes geschah (die Lebensspanne ist kurz, die Zahl der Nachkommen klein). Auch das populäre Karma gehört in dieses Bild von Gerechtigkeit, so dass ungeachtet einer Daseinsfrist nach der Wiedergeburt noch die Konsequenzen zu tragen seien für das, was man dereinst verbrochen hatte. Die Alltagsformel lautet dafür: Es geschieht dir recht. Gefangen in solcher Ausgleichsgerechtigkeit entwickeln sich unendliche Rachekreisläufe, die dem Los es nicht überlassen wollen, dass einer später büßt für sein übles Verhalten. Sie helfen nach. Der Soziologe René Girard beschreibt diese Gewaltspirale: „Früher oder später kommt anscheinend immer jener Moment, wo man sich der Gewalt nur noch mit Gewalttätigkeit entgegenstellen kann; dabei ist es unwichtig, ob man gewinnt oder verliert – die Gewalt geht immer als Siegerin hervor.“* Doch wie kommt man aus ihr heraus? Die Ratlosigkeit derer, die sich diese Frage stellen, nicht zuletzt angesichts verfahrener Kriege, Politiker oder Therapeuten, Militärs wie Sozialarbeiter, spiegelt vielleicht wider, dass ihrem Wortschatz zwei entscheidende Vokabeln fehlen: Versöhnung und Erlösung, die beide Verzichtskategorien sind und nicht darauf bestehen, worauf wir meist zuallererst pochen – recht zu haben. Gerechtigkeit wäre so gesehen die Aufgabe der Annahme, im Recht zu sein.
* Das Heilige und die Gewalt, 50