Musik in meinen Ohren

Aus dem noch ungeschriebenen Roman

… Draußen, obwohl die Sommermitte zu später Stunde die prächtigsten Farbenspiele am Horizont vorhält, lässt nur noch ein fahler Schimmer zwischen den Häusern am gegenüberliegenden Ufer ahnen, dass dieser Tag schon sehr lang dauert. Der Topf mit dem Curryrest steht ausgekühlt auf dem Herd. Aus einem versteckten Lautsprecherpaar hinter den Stahlträgern des Lofts, die mit schwarzem Bootslack behandelt sind, dringt die Stimme von Rebekka Bakken raukehlig: „And if I have to go“. Alles deutet auf Abschied.
Nur das Gespräch am Tisch will nicht enden. Die beiden haben sich in ihre Themen tief verstrickt und verkeilt, je nach Stimmungslage mal sehr einverständig, dann wieder aufgeregt kontrovers. „Sag mal, wenn du schreibst …“, hebt sie an. „Ja, was ist dann?“ unterbricht er sie, um kurz gedanklich Luft zu holen, bevor es persönlich wird. Er weiß, was kommt. „Also, wenn du schreibst …, hast du das dann irgendwie auch erlebt?“ Das ist die Frage, die ihm immer gestellt wird von Menschen, die hinter die Wörter wie hinter eine Fassade schauen wollen im Wunsch, ihn selbst dort zu treffen. Als ob er wüsste, wer dieser „ihn selbst“ ist und wo er zu finden sein würde.
„Wie man’s nimmt“, sein Lächeln umspielt ein leicht maliziöser Zug. Er spürt es und kann sich dagegen nicht wehren, obwohl er ihr gegenüber nicht einen Hauch von Böswilligkeit empfindet. Im Gegenteil. „Du lebst und erlebst das irgendwie immer. Aber ich bin ja nicht der Protokollant meiner Seele. Es ist alles Fiktion. Deswegen notiere ich über meine Texte gelegentlich Aus dem noch ungeschriebenen Roman. Damit bloß keiner meint, es gebe einen Bezug zur Wirklichkeit. Das ist doppelt und dreifach verklausuliert. Niemand kann zitieren aus dem, was ungeschrieben ist, allenfalls aus Unveröffentlichtem. Der Roman bleibt ungeschrieben, auch wenn ein Stück so tituliert und geschrieben ist. Ist es dann die falsche Überschrift? Nein, aber eine gelegte, falsche Fährte. Selbst unser Dialog im Moment steht unter diesem Motto. Er hat also nie stattgefunden. Und ist dadurch so lebendig. Verstehst du?“
Diese letzte Drehung bereitet ihr Schwindel. Wie soll das gehen: so zu reden, als könne man ihre Sätze mit Händen greifen, jetzt und hier in ihrer Wohnung, und zugleich Teil einer literarischen Einbildung zu sein? Das überfordert sie. „Mich überfordert das auch“, sagt er. „Kennst du The Purple Rose of Cairo? Die Filmkomödie von Woody Allen, als er noch brillant war und man von ihm schwärmen konnte, ohne sich rechtfertigen zu müssen. Mit Mia Farrow in der Hauptrolle. Da steigt der Schauspieler während der Vorstellung plötzlich aus der Leinwand, durchbricht die berühmte vierte Wand, und beginnt in der Realität, also im Film, mit der Protagonistin eine Liebesaffäre. Oder erinnere dich an diese perfekten Illusionen in den großen Gärten, das Ha-Ha, die Grenzmauer, die in einem Graben versenkt ist, so dass dem Besucher des Parks sich der Eindruck vermittelt, er höre nirgendwo auf. Oder das Perspektiv, ich glaube es heißt ,Das Ende der Welt‘, wo ein Laubengang in eine Tromp-l’oeil-Malerei übergeht, reine Augenwischerei, aber faszinierend inszeniert. So ist es zuweilen mit Worten.“
Sie wird traurig. Den ganzen Abend über hat sie gedacht, dass ihr da ein klarer Kopf gegenüber sitzt, ein wenig verträumt, ab und zu leicht verpeilt, im Grunde jedoch ein ehrlicher, fester Charakter, verlässlich halt. Und dennoch nicht langweilig. Das allerdings, was er eben erzählt hat, wirft sie zurück. Sie will noch nicht aufgeben und die Zensur verteilen, die sie schon öfter vergeben musste in letzter Zeit und die „Wieder nichts!“ heißt, wenn sie mit ihren neugierigen Freundinnen sich austauscht. Aber sie ist skeptisch geworden, zumindest unsicher.
„Was ist?“ fragt er. Er hat gemerkt, dass seine intellektuellen Girlanden ihr vorkommen müssen, als drehe er Locken auf einer Glatze. „Was hast du plötzlich?“ „Nichts“, bricht es prompt aus ihr heraus, was auch bedeuten könnte: Alles.
Ihm fällt auf, dass die Songs inzwischen längst verklungen sind. Kein sentimentaler Jazz mehr aus Hoch- und Tieftönern. Der hohe Raum wirkt plötzlich noch größer, weil es still geworden ist in ihm. „Mir ist das alles ein bisschen zu kompliziert. Das ist das Schöne an der Musik. Sie hat keinen doppelten Boden. Eigentlich ist das meine Art, Worte zu machen. Weniger sprechen, mehr singen.“ „Bei mir ist es umgekehrt“, sagt er leise. „Ich rede und rede und rede in der Hoffnung, auf diese Weise eine eingängige Melodie zu finden, in die man einstimmen kann.“ Die leichte Bedrücktheit hat sich nun auch auf ihn gelegt. Beide fragen sich heimlich, wie sie da heute noch herausfinden. „Komm!“ sagt sie unvermittelt. „Lass uns spielen.“ …