Monat: Januar 2022

Kindlich, kindisch

Es gibt ein sicheres Kennzeichen für die Unterscheidung zwischen „kindlich“ und „kindisch“: Das kindliche Gemüt behält seine Wünsche, auch wenn ihnen nicht nachgekommen wird, wohingegen das kindische die Erwartungen, die es hegt, gleich beleidigt für falsch erklärt, wenn ihnen die Erfüllung unmittelbar versagt ist.

Erzählungsbedürftig

Zu den Grundbedürfnissen menschlichen Lebens gehört auch der Hang zu erzählen und der Wunsch, Geschichten zu hören. Beides, die eigene Erfindung wie die Berichte anderer, die auch nichts anderes sind als deren Fabeleien, sind die Elemente, mit denen wir die Vorstellung von uns selbst bilden und ausbauen.

Tristesse oblige

Man sollte stets jenes Niveau an Feinfühligkeit pflegen, das Menschen daran hindert zu fragen, wie es einem gehe, weil sie sehen, dass schon diese Art neugierig mitspürender Erkundigung zu viel sein würde für den so Angesprochenen. Die Pflicht zur Rücksicht auf Traurigkeit verlangt auch das Unterscheidungsvermögen zwischen einer anlassgebundenen Verstimmung, die aufzuheben ein Gespräch über den Auslöser helfen könnte, und jener tieferen Gestimmtheit, die  sich nurmehr verstärkte durchs Reden über sie.

Grüße aus der Ferne

Freundschaft ist jene Form eines Zuhauses, die nicht an Ort und Zeit gebunden ist. Nur so kann man ganz bei sich bleiben, auch wenn man außer sich geraten ist.

Wir sollten, müssten, könnten mal …

Ginge es nach den Plänen, Wünschen und Vorhaben, die wohlmeinende Mit- und Nebenmenschen mit einem zum Jahresbeginn hegen, wäre der Terminkalender voll mit Verabredungen. Was in den vergangenen zwölf Monaten nicht geklappt hat, obwohl es mit genauso großem Getöse annonciert worden war, soll nun unbedingt nachgeholt werden. Das Zuverlässigste an solchen Ankündigungen ist deren Ritualcharakter: Je nachdrücklicher sie verlautbart werden, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass es zu ihrer Realisierung nie kommt. Es fehlte daher auch Entscheidendes, wenn sie schlicht ausblieben.

Mit der Welt spielen

Was wir als Naivität abtun, ist nicht selten ein Spiel mit der Wirklichkeit, die durch Unbedarftheit provoziert wird, ihre Grenzen zu zeigen. So lernen wir den Realitätssinn. Und man wird, zur Überraschung so mancher Erkenntnistheorie, sogar behaupten können, dass die Welt in der Schärfe ihre Konturen zeigt, wie ihr zunächst mit Einfalt und Offenheit begegnet wird. Naivität lässt die Welt klarer, weil widerständiger erscheinen – allerdings bedeutet das nicht nur, dass Ahnungslosigkeit bestraft, sondern auch dass Undenkbares plötzlich möglich wird.

Wende zum Guten

Das Neue im gerade angebrochenen Jahr ist keine Charaktereigenschaft, kein Wesenszug, hat nichts von einem Status, ja erreicht nicht einmal die Qualität, die eine neue Hose hat, die sie eine Zeitlang behält, bis dann der nächste Kleidungskauf das gute Stück zum Gebrauchsartikel degradiert. Mit den Wünschen am Anfang des Jahrs signalisieren wir, dass wir die Absicht haben, der Ungewissheit des Kommenden nicht nur mit Befürchtung und Risikoabwehr entgegenzutreten, sondern voller Erwartung und Interesse. Das Neue ist hier die projizierte Hoffnung auf bessere Tage.