Monat: Mai 2019

Zu viele Worte

Das ist das Problem von offenen Aussprachen, dass sie dem Konflikt seine heimliche Unschuld nehmen. Wenn ein Fehlverhalten erst einmal präzise analysiert und die Absicht, sich zu ändern, ausgesprochen ist, ist mit dem Rückfall in frühere Muster zugleich der Ausweg verbaut, die Sache ins grenzenlose Feld der Ignoranz zu schieben. Nun gilt, dass man es besser hätte wissen müssen, so dass ein Versagen nur aus Unfähigkeit oder, schlimmer noch, Böswilligkeit zu erklären ist. Was nach einer solchen Aussprache sich gewandelt hat: Es steht die Offerte moralischer Überlegenheit. Man muss sie nur annehmen.

Vernünftig

Die größte Leistung der Vernunft besteht darin, dass sie uns erlaubt, Situationen scharf zu beurteilen, ohne sie erlebt haben zu müssen. Sie ist ein Distanzierungsorgan, das für sich in Anspruch nimmt, nicht von allem in Anspruch genommen zu werden. Der Satz: „das kannst du gar nicht wissen, du bist nicht dabei gewesen“, schreckt das Denken nicht; im Gegenteil behauptet es gelassen: dass du dabei gewesen bist, hilft dir noch nicht, es zu wissen.

Parteienspektrum

Sobald sie an der Regierungsbildung beteiligt sind und die Aufgaben des Gesetzgebers übernehmen, werden sich die Parteien, die sich im Wahlkampf noch erbittert bekämpft haben, alle ähnlich: Sie beginnen einzuführen, statt auszukehren. Den Wust an Regeln, die Unübersichtlichkeit der Vorschriften, die Widersprüchlichkeit der Verfügungen, die ein entschlossenes Handeln eher hindern als fördern, mehr lähmen als vorantreiben, verdanken wir einer über Jahrzehnte gepflegten Sinnselbstversorgungsmentalität der Politiker, die noch die letzten parlamentarischen Hinterbänkler veranlasst, ihre Handschrift in einer Spezialverordnung gewichtig zu hinterlegen. Alle beklagen sich über die Komplexität der modernen Welt, auf die der moderne Staat zu reagieren habe, und verstehen nicht, dass sie selbst es sind, die maßgeblich zu deren Undurchschaubarkeit beitragen. Den Wettbewerb mit der Komplexität gewinnt nur, wer wieder sich der einfachsten Lebensformen erinnert und deren Überlegenheit wertschätzt: Das Vertrauen ist allemal effizienter als jeder Erlass; Mut ist stets selbstgewisser als jede Tat, die sich ihre Sicherheit über eine Studie mit Fokusgruppen gesucht hat. Das hat der Populismus erkannt, der auf billige Art die Sehnsucht nach Klarheit bespielt, indem er sie mit simplen Inhalten ideologisiert. Die wesentliche Aufgabe der Gegenwartspolitik lässt sich nur paradox beschreiben: Hingabe an die Zurücknahme.

Mach dich frei

Es ist einer der beklemmendsten Sätze beim Arzt, wenn die Sprechstundenhilfe im Behandlungszimmer sagt: „Sie können sich schon einmal frei machen. Der Doktor kommt gleich.“ Da sitzt man dann halbnackt, friert leicht und wartet lange Minuten, bis endlich der unbekannte Fachmediziner, kurz grüßend, zur schnellen Begutachtung in den Raum tritt. Alles ist auf Effizienz getrimmt, die Diagnose oft nicht einmal der genauen Anschauung entnommen, sondern dem beiläufigen Blick auf den Bildschirm und der dort vorgeschriebenen Anamneseschnipsel. Wo sonst das Ausziehen vor dem Anderen das intime Spiel reizvoll bereichert oder, in der Deformation der Hingabe zur Erniedrigung, einseitige körperliche Blöße die Machtdemonstration in einem Verhör kalt darstellt, hat die lapidare Aufforderung der Assistenz in der Arztpraxis, sich freizumachen, von beiden Situationen unangenehm viel übernommen: aus der Liebesverstrickung das Ungeschützte, ohne die begleitende Zartheit, aus der Verachtungsszene die Demütigung, ohne die Tendenz zur Vernichtung. Mit Freimachen hat das so wenig zu tun, wie Nacktheit eine Qualität von Wahrheit repräsentiert. Vielmehr ist das Sollen, vorgetragen von der Vorzimmerdame, so bedrängend und bedrückend, dass das Wollen sich in dem Moment nur noch als Widerwille zeigt und das Können sich in Umständlichkeit verwandelt hat. Freiheit wäre indes jenes, hier verlorene, Gleichgewicht zwischen dem Anspruch, dem Bedürfnis und der Fähigkeit, beides zu erfüllen, die schönste Entsprechung von Sollen, Wollen und Können.

Lohn des Muts

Unter allen individuellen Haltungen ist der Mut am meisten abhängig vom Wort. Weil er in Situationen besonders gefordert ist, die schier aussichtslos zu sein scheinen, bedarf er einer kommunikativen Dauerbegleitung, die wider jede Wahrscheinlichkeit sich mit der Sprache zur Wehr setzt und Kräfte entfesselt, die zur späteren Verwunderung gelegentlich Anlass geben. Das geht so weit, dass es sogar gleichgültig sein kann, ob einem Mut von anderen zugesprochen wird oder ob man ihn sich selbst einredet. Hauptsache, er vertraut dem, was gesagt ist.

Recht auf Entschuldigung

Der inflationäre Gebrauch des Satzes „Ich entschuldige mich …“, der als reflexive Wendung über die Autorschaft der Gewähr einer Abbitte täuscht (nur eine letzte Verweigerung kann ich mir symbolisch selber zuschreiben: „Das verzeihe ich mir nie …“), verdeckt, dass ich mich, indem ich das Ansinnen um Nachsicht vorbringe, in die Obhut eines anderen begebe. Er soll Verzeihung walten lassen, und kann daher die ausgestreckte Hand auch ausschlagen. Es gibt kein Recht auf Entschuldigung; genauso wenig existiert die Macht, sich selber exkulpieren zu können. Aus dem Weg geräumt wird eine störende, hässliche, verlegene, böse Sache nur, wenn andere mit anpacken. Und sei es durch das entlastende Wort, mit dem, weil es nie zur Pflicht gemacht werden kann, Menschen wie nirgends sonst zeigen können, wozu Freiheit fähig ist.

Freie Berufswahl

Auch wenn viele noch klassenkämpferisch Ausbeutung anprangern, über Entfremdung schimpfen oder den Warencharakter der Arbeit verdammen, so hat sich doch im modernen Unternehmer längst eine Figur herausgebildet, die das alles auf sich vereint. In ihrer jüngsten Variante, dem Gründer eines Startups, der sich selbst ausbeutet, sich Investoren kapitalhungrig verdingt, weil er so idealistisch ist, an den Erfolg seiner Entwicklung fest zu glauben, und so materialistisch, von ihm dereinst über die Maßen profitieren zu wollen, fallen Freiheit und der Fetischcharakter der Ware zusammen: Er konsumiert sich als Produzent und produziert sich als Konsument seiner eigenen Sache. Selbst diese Entfremdung nimmt er in Kauf, weil er meint, nur so sich realisieren zu können.