Monat: September 2019

Perspektivenwechsel

Wie gegenwärtig die Zukunft ist, merkt man spätestens in dem Moment, da eine Perspektive verloren gegangen ist. Plötzlich verändert sich alles. Nicht nur die (gemeinsamen) Pläne sind Makulatur. Auch die Einstellungen zur Angelegenheit, die Sorgfalt, Behutsamkeit, der Zeitaufwand, die Intensität, mit denen man sich ihr zuwendet, schwinden rapide. Was bleibt, wirkt hohl und fad. Als sei die Gegenwart nichts anderes als der Vorschein dessen, was kommen wird. Der Raub der Aussicht besiegelt das Ende, ohne das Ende auszusprechen. Was keine Zukunft hat, besitzt auch keine Gegenwart. Es fehlt nur noch der Satz: Das war’s. Umgekehrt gilt für Politiker, Berater, Manager, Liebende und Lenker: Willst du eine Sache lebendig erhalten, schenk ihr eine Perspektive. Die Gegenwart hat keinen Horizont, nur Vergangenheit oder Zukunft dehnen sich aus.

Nackte Wahrheit

In dem Maße, wie wir das Talent verschleudern, richtig zu denken, setzen wir alles auf die Fähigkeit, recht zu behalten.

Löcher im Boden

Am wirkungsreichsten lässt sich eine Sozialbeziehung zerstören, indem man ihre Selbstverständlichkeiten in Zweifel zieht. Das gilt für ein politisches Gebilde wie die Demokratie gleichermaßen wie für ein Zweierverhältnis: Das Fragilste ist der feste Boden, auf dem sie lebendig stehen. Nichts lässt sich weniger kommunizieren als das, was die Bedingung für jede Form von Kommunikation darstellt; bei nichts gilt es intoleranter zu sein als bei dem, was Toleranz überhaupt erst erlaubt. So wird ein Gemeinplatz zur Voraussetzung für Gemeinsinn.

Nachhilfe im Fragen

Die besten Fragen drängen nicht auf eine Antwort. Sie öffnen vielmehr den Horizont für bisher Unbekanntes, Unbetretenes, Ungesagtes, von dem sie nicht erwarten können, dass es eine exakte Erwiderung darstellt auf das Intendierte. Vielmehr wirken sie als Wegzeichen, manchmal als Wegbereiter des Denkens, verhindern, dass es seine Bewegung ermattet und lustlos einstellt. Als Hannah Arendt im Mai 1952 ihren früheren Lehrer und Geliebten Martin Heidegger besucht, erzählt sie ihrem Mann Heinrich Blücher in New York begeistert von den neuen Vorträgen, die der Philosoph ihr vorgelesen hat. Und ist angerührt von der Begegnung mit dem Freund, der noch immer tief im Herzen Raum hat. Blücher antwortet so ganz ohne Eifersucht, ermuntert sie vielmehr, keine Rücksicht zu nehmen auf die Beleidigungen von Elfride Heidegger: „Vergiß die Frau: Wenn Dummheit hartnäckig wird, das ist der Punkt, wo sie in Schlechtigkeit übergeht oder jedenfalls von ihr nicht mehr unterscheidbar wird … Was heißt uns denken? ist eine der großartigsten Fragen nach Gott. So hilf ihm fragen.“* Es gibt keine schönere Bestimmung für das, was mit Fug Gespräch genannt wird: Nachhilfe im Fragen.

* Hannah Arendt / Heinrich Blücher, Briefe 1936 – 1968, 278

Mathematik der Freiheit

Verantwortung = Freiheit + Zeit
Hedonismus = Freiheit x Lust / Zeit
Anarchie = Freiheit² (Freiheit²; eine Freiheit, die sich an ihren eigenen Möglichkeiten berauscht)
Angst = Freiheit³ x Zeit (Freiheit³; eine Freiheit, die sich ihrer eigenen Dimension bewusst wird)
Grenze = Freiheit – Raum

Verklärte Sinne

Wie stark die Erholung nach der Ferienzeit nachgelassen hat, lässt sich daran messen, wie schlecht der Wein schmeckt, der am Urlaubsort noch „sensationell“ gemundet hat. Es sind nicht nur Landschaft und Klima, die der gekelterten Traube dort eine passende Note geben, die in der Heimat dann fehlt. Andernorts zur Erholung nimmt man vieles gern in Kauf, was man zu Hause nie duldete – durchgelegene Matratzen, eine Küche ohne Spülmaschine, telefonische Unerreichbarkeit –, ja verklärt es als Naturromantik, weil man sich entschädigt weiß durch die sichere Absenz vom Alltag.