Kategorie: Geheimnis

Diskreter Dreischritt

Kant unterscheidet drei Hauptfragen: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Nur wer hier seine Grenzen präzise kennt, befriedigt das Interesse des Menschen an sich selbst. Im Zeitalter digitaler Datenschnüffelei heißt es analog: Warum soll ich nicht wissen dürfen, was ich wissen kann? Wir verstehen kaum noch, was dem „Erfinder“ der Würde selbstverständlich zu sein schien: dass diese sich widerspiegelt in der vornehmen Form der Diskretion, nicht nur Bestimmtes nicht zu verraten, sondern zu wissen, was man nicht wissen will. So heißt denn das noch umfangreichere Spähprogramm des britischen Geheimdiensts sinnreich „Tempora“, für die Gebildeten unter den Verächtern der totalen Überwachung. Tempora mutantur, nos et mutamur in illis – die Zeiten ändern sich, und wir ändern uns mit ihnen.

Mustergültig

Wie abstrakt das Phänomen digitaler Überwachung ist (und damit meist unterhalb der allgemeinen Erregungsschwelle), mag an den atavistischen Wörtern abzulesen sein, die wir in diesem Kontext benutzen. Wir zwingen uns in eine bildkräftige Vorstellung über Ausdrücke aus den seligen Zeiten sinnlicher Anschauung, die bei der Jagd geschärft wird: Abhören, Ausspähen, Geheimnisverrat, Ortung, Lauschangriff, Spuren. Mustererkennung hingegen, und um die geht es allein, ist ein Akt des schöpferischen Gehirns, eines Hochleistungsrechners, bei dem es auf Unterscheidungstalente ankommt, die durch möglichst viele Vergleiche Wiederholungen wahrnehmen und über diese Unwesentliches vom Symptomatischen sondern. Muster sind nicht offenkundig; sie müssen sichtbar gemacht werden. Je nach Vorgabe, können aus denselben Daten verschiedene Informationen geholt werden. Hier sind Frage und Antwort nicht selten einander so nah, dass die Suche schon bestimmt, was herauskommen wird.

Ihr Datensammler, wir Informationsjäger

Wenn die Angst herrscht, kennt sie nur eine Regierungsform: die Diktatur. Dann verwandelt sie Wachsamkeit in Überwachung, Controlling in Kontrolle, Recht in Inquisition, Führung in Bevormundung, Überzeugung in Wahn. Nicht die Neugier, nicht die Lust am Erkenntnisgewinn, sondern jener, der sich ganz und gar fürchtet, strebt nach Allwissenheit. Doch wer überwacht die Wächter? Das ist die letzte Frage jeder Machttheorie: „Der Gefangene ist der nicht-sehende Sichtbare, der Wächter ist der sehende Sichtbare, das Volk schließt die Skala, insofern es sehend, von niemandem anderen als von ihm selbst gesehen wird und somit für andere unsichtbar ist. Der sehende Unsichtbare ist … der Souverän.“ So beschrieb Noberto Bobbio das Ideal (Demokratie und unsichtbare Macht, in: Die Zukunft der Demokratie, 103). In der Wirklichkeit ungemessener  Rechnerkapazität geht es nicht mehr darum, wer sehen kann, ohne dabei gesehen zu werden. Entscheidend ist nur noch der Zugriff auf das Protokoll dessen, was wir beiläufig immer schon ins Licht gestellt haben, indem wir es den digitalen Medien überantworten. Wir sind nicht mehr weit weg von jenem Punkt, den der Mythos vom Anfang der Welt ehedem als das Ende menschlichen Zusammenlebens markierte: die Schlange mit ihrem Versprechen totaler Durchschaubarkeit. Das verräterische Tier brauchen wir nicht mehr, wir haben die Technik. Die Verführung ist die gleiche.
Zur Enthüllung des Programms Prism, das der amerikanische Geheimdienst flächendeckend zur Überwachung nutzt